Wenn Damiano Michieletto inszeniert, dann darf das Publikum zu Recht einen Highlight der Regiekunst erwarten – wie zum Beispiel bei Puccinis Triptychon, das der Theatermacher aus Venedig vor ein paar Jahren in Wien herausbrachte – oder man muss sich auf einen Flop gefasst machen wie zum Beispiel bei der Così fan tutte, die uns vor zwei Jahren in Barcelona verärgerte. Hier in Wien –sagen wir es gleich – zeigt sich Michieletto wieder von seiner besten Seite, zieht alle Register seiner Kunst, ‚produziert seine ‚Kunstfertigkeiten‘, deckt verborgene Schichten von Rossinis dramma per musica auf.
Die Regie konzentriert sich auf die Grundstruktur des Stücks, lässt alles unnütze Beiwerk wie das Militärische beiseite und erzählt eine neue Geschichte. Dieser Otello, wie ihn Michieletto versteht, ist kein ‚Mohr‘ und kein Admiral in den Diensten der Republik Venedig. Er ist ein arabischer Investor, der mit den Großkaufleuten von Venedig zum Vorteil des Staates einträgliche Geschäfte gemacht hat und der als Gegenleistung nichts anders verlangt als eingebürgert zu werden. Ein Idealfall für die Apologeten der Integration? Eine Bestätigung für die Multikulti Idealisten? Nicht doch! Das Bürgerrecht, so signalisieren es, wenn auch recht unwillig, die Mitglieder ‚der herrschen Klasse‘ könne man schon konzedieren, doch einen Zugang zur hohen Gesellschaft wisse man dem Fremden zu verwehren.
Mit anderen Worten: die Regie erzählt nicht noch einmal das konventionelle Eifersuchtsdrama um Otello und Desdemona, wie wir es kennen. Eifersucht und nicht minder Ehre sind nur Nebenmotive, sind nur dramatische générateurs, die die Intrige voran treiben. Im Zentrum, dies ist der erste Eindruck, steht die Integration, die gescheiterte Integration. Integration ist allenfalls ein schöner Traum, wie er im Finale dem moribunden und verzweifelten Araber an der Leiche der Desdemona widerfährt. Schuld an diesem Scheitern tragen beide Seiten: die geschlossene Gesellschaft der Oligarchie der Mächtigen, die jede Veränderung ablehnt. Schuld trägt nicht minder der arrogante Außenseiter, der gleich mit dem Geldkoffer in der Hand auftritt und der Tochter des Geschäftspartners das schwarze Kopftuch mitbringt, das diese zum Ärger und Entsetzen der Gesellschaft noch dazu begeistert trägt.
Der zum schwerreichen Geschäftsmann aus Arabien mutierte Otello von heute ist nicht gewalttätig. Er erwürgt oder ersticht nicht die arme Desdemona. Er treibt sie mit seinen Wutausbrüchen in den Selbstmord. Mit der Wut des orientalischen Machos auf das Objekt der Begierde, das, so glaubt er, sich seinen Besitzansprüchen entzogen hat? Eine Satire auf die Herrschaftsgelüste arabischer Männer?
Auf einer simplen Ebene mag man das so sehen. Doch Michieletto ist weit entfernt von der Satire und erst recht vom Agitationstheater. Sein Otello, mag das Thema auch vordergründig im Zentrum des Stücks stehen, ist kein Propagandastück über die Mühen, die vergeblichen Mühen, der Integration. Sein Otello ist letztlich konventionelles Märchentheater mit Klischeefiguren : die hässliche und böse Schwester (eine Zutat der Regie), die der Schönen und Guten ihr Glück mit dem Prinzen aus dem Morgenland neidet, der böse Vater, der aus Eigennutz die Tochter um ihr Glück bringt, der Böse und der Gute, die um die Gunst der Prinzessin streiten usw. Doch zugleich ist Otello – und dies ist die dritte Bedeutungsschicht, die die Regie in Szene setzt, Traum- und Visionstheater. Und diese Form des Theaters wird (abgesehen von der Schlussszene) primär an der Figur der Protagonistin fest gemacht. Einer geradezu todessüchtigen Desdemona, die ihre eigene Totenfeier als Vision vorwegnimmt, die sich im Schicksal der Francesca da Rimini wiedererkennt. Paolo und Francesca, in Kostümen des 19. Jahrhunderts, die einem Gemälde von Gaetano Previati, das als Dekorum das Bühnenbild beherrscht, entstiegen sein könnten, geistern als stumme Gestalten durch die Szene, antizipieren das Schicksal der Desdemona.
Natürlich geht diese piktorale und traumhafte Antizipation nicht so ganz auf. Doch dies ist ohne Bedeutung. Die Referenz auf das berühmte Liebespaar und die Identifikation mit diesem erhebt die Geschichte von Desdemona und Otello in den Bereich des Mythos, macht sie zu einer aktualisierenden Variante des Francesca da Rimini Mythos.
Eine scheinbar simple Eifersuchts- und Familientragödie aus ferner Zeit hat die Regie in unserer Zeit transponiert, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die tagespolitische Valenz des Stücks plakativ aufzudrängen. Das Politische – so ist wohl die Grundkonzeption der Regie – soll sich im Laufe des Geschehens im Traumdiskurs auflösen.
Prima la messa in scena, e dopo la musica? Nicht so ganz. So sehr auch die Inszenierung die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zieht, so kann und so will sie nicht die Musik beiseite drängen. Im Theater an der Wien wird, ganz wie es dem anspruchsvollen Niveau des Hauses entspricht, brillant gesungen und musiziert. Gleich drei erstklassige Tenöre verlangt Rossini im Otello. Keine Frage, dass mit John Osborn in der Titelrolle, mit Maxim Mironov als sein Rivale Rodrigo und mit Vladimir Dmitruk in der Rolle des Intriganten Jago Rossinis Forderungen mehr als erfüllt wurden. Doch die Palme gebührt der Primadonna: Carmen Romeu, die für die erkrankte Nino Machaidze die Desdemona aus dem Orchestergraben sang und die – und dies nicht nur bei dem so populären Lied von der Weide – das Publikum zu Recht zu begeistern wusste.
Ein großer Opernabend im Theater an der Wien.
Wir sahen die Aufführung am 23. Februar 2016, die dritte Vorstellung der laufenden Serie. Die Premiere war am 19. Februar 2016