„Hier gibt’s kein Auferstehn“ – auch nicht im Traum. – Korngold, Die Tote Stadt. Gluck, Orpheus und Eurydike. Zwei Varianten des Orpheus-Mythos in Wiesbaden und in Frankfurt

Passen Korngolds Filmmusik Oper (avant la lettre) und Glucks berühmte ‚Reformoper‘ zusammen? Von der Musik her selbstverständlich nicht. Hier die oft so eingängige und in den bekannten ‚Nummern‘, Mariettas Ballade, Pauls Schlusslied, Pierrots Lied, schlagerartige Musik. Dort bei Gluck das ‚Erhabene‘ in Gesang und Orchesterklang. Auch von der Handlung her haben die Tote Stadt und Orpheus und Eurydike – auf den ersten Blick hin – nichts gemein. Dort der etwas abartige Totenkult um die früh verstorbene Marie in einem düsteren, abergläubischen katholischen Milieu, einem Totenkult, aus dem sich der Trauernde schließlich durch einen Albtraum befreit. Hier der Abstieg in die Unterwelt und der vergebliche Versuch, die Geliebte zu den Lebenden zurück zu führen – mit einem scheinbaren lieto fine, das Amor als deus ex machina bewirkt.

Und doch, so schien es mir, als wir an der Oper Frankfurt Die Tote Stadt und am Abend darauf in Wiesbaden Orfeo ed Euridice hörten und sahen, dass die beiden Stücke, sieht man sie als moderne Varianten des Orpheus-Mythos, zusammen gehören. Es mag sein, dass die Inszenierungen, die beide den Traumdiskurs betonen, zu diesem Eindruck beigetragen haben. Der Wiesbadner Orpheus, ein Künstler, ein Intellektueller aus der Welt von Heute, trauert in seinem Studio um die verstorbene Geliebte und sieht keinen anderen Ausweg als den Selbstmord mit einer Überdosis Schlaftabletten. Im Todeswahn erlebt er den Orpheus-Mythos mit sich in der Rolle des Protagonisten. In diesem Traum wird ihm der scheinbar so rettende und doch mit seinem Verbot so sadistische Amor mit der Geliebten identisch – mit einer sehr zickigen Geliebten, die an der Liebe des Orpheus zweifelt und gar nicht zurückkehren will. Bei dieser Konzeption braucht man keine höllischen Furien und keine seligen Geister. Die Furien werden zu schwarz verschleierten Trauergästen. Die seligen Geister zu einer Desinfektionstruppe, die das Studio des Orpheus von all dem Gerümpel des Lebens befreien, von der Weinflasche bis zum Pianoforte. Bei dieser Konzeption kann es auch kein lieto fine geben. Mag die Musik es auch noch so pompös verkünden.

Orpheus und Eurydike, wie sie Ingo Kerkhof in Wiesbaden inszeniert, das ist die Geschichte vom verzweifelten Selbstmörder Orpheus, der im Traum, im Todestraum, die Vergeblichkeit seiner Liebe, die Nichtigkeit all seiner Hoffnungen erlebt. Eine Variante des Orpheus-Mythos, die allen konventionellen Plunder beiseite lässt, die sich auf den Kern des Mythos: die Todesthematik und mit ihr verbunden auf die Vergeblichkeit aller Hoffnungen auf Auferstehung konzentriert. Eine Variante, die bei all ihrem Pessimismus nicht schockieren will, die sich mit Ausnahme des aus ihrer Sicht verlogenen lieto fine nicht gegen die Musik wendet.

Eine Inszenierung, die fasziniert und eine Sängerin und Schauspielerin in der Rolle des Orpheus (Franziska Gottwald), die einfach grandios ist. Ein großer Opernabend im Hessischen Staatstheater Wiesbaden – in einem bei weitem nicht ausverkauften Haus.

Wir sahen die Aufführung am 18. Oktober 2015. Die Premiere war am 25. Juni 2015.

Und in Frankfurt? Auch dort wird das Libretto (wenn auch etwas vorsichtiger) aktualisiert und alles, was einst den Zauber von Bruges-La Morte, dem Kultbuch des belgischen Symbolisten Rodenbach, ausmachte, zurückgedrängt oder karnevalisiert: die tödliche Melancholie, in der sich der Protagonist verfangen hat, der morbide Reiz eines katholischen Aberglaubens, die Anbetung des präraffelitischen Frauentyps.

Ich will ja nicht sagen, dass die aus der Spielzeit 2009/10 wiederaufgenommene Inszenierung von Anselm Weber nicht gelungen sei. Ganz im Gegenteil. Die Hitchcock Atmosphäre, die das Geschehen bestimmt, schafft schon eine Magie des Unheimlichen und des Albtraumhaften. Doch im Vergleich zum Wiesbadner Orfeo bleibt alles doch recht flach. Der arme Paul mit seinem Reliquienkult um Marie ist doch nur ein verklemmter Mittvierziger, der eine erhöhte Dosis Sex und Gewalt braucht, um aus seinem psychopathischen Zustand heraus zu finden. Ersteres bietet ihm (im Traum) die Tänzerin Marietta, – ein Orpheus ohne eigne Anstrengung -, der seine wiedererstandene heilige Marie in der Marietta zu erkennen glaubt. Letzteres verschafft er sich selber, indem er (wiederum im Traum) die laszive Wiedergängerin erwürgt.

Traumdiskurse, die beim Erwachen ein Film- Happy End erlauben und die zugleich etwas Operettenhaftes haben. Keine Frage, dass die Reliquienwelt nebst eigner Hauskapelle und Videos von der Toten, dass der Traum von der Tänzerin und ihrer Theatertruppe, dass die Wahnvorstellungen von der Wiederkehr der Toten und ihren zahllosen Doppelgängerinnen handwerklich perfekt in Szene gesetzt werden – eben Hitchcock auf dem Theater. Und doch bleibt alles letztlich fad. „Cinema Music“ meinten die Amerikaner in der Reihe hinter mir. Gut gemacht und schön gesungen. „Hier gibt’s kein Auferstehn“. Mag sein.

Wir sahen die Aufführung am 17. Oktober 2015. Die Premiere war am 22. November 2009.