Ja, warum soll man im Wien des Dr. Freud und des Otto Wagner-Spitals Le Nozze di Figaro nicht in eine psychiatrische Klinik verlegen. Irgendwie krank – zumindest krank an der Liebe – sind sie ja alle, die Mozart/Da Ponte Figuren. Und geheilt – so scheint es zumindest – sind sie am Ende des „tollen Tags“. Und warum soll man als Theater auf dem Theater sie sich nicht selber spielen lassen, auf dass ihre Defekte, ihre ‚Neurosen‘, ihnen umso eher bewusst werden? Dass Musizieren und Theater-Spielen therapeutische Funktionen haben können, ist schon fast ein Gemeinplatz. Und dies gilt nicht minder für den Metatheater Trick des Theaters auf dem Theater. Ganz in diesem Sinne hat das Wiener Produktionsteam um Felix Breisach aus einem Subtext der Oper (eben der Krankheit zur Liebe) und aus einem Metatheater Klischee (eben dem Theater auf dem Theater) sowie aus einem Mediziner Gemeinplatz eine etwas ungewöhnliche, doch immerhin recht amüsante Le Nozze di Figaro gemacht.
Das Einheitsbühnenbild – die psychiatrische Klinik – zeigt eine Simultanbühne gleich mit vier Spielflächen: zur Linken das Büro des Chefarztes, zur Rechten eine Reihe von Klinikbetten, in der Mitte der Behandlungsraum – natürlich mit der berühmten Couch des Dr. Freud – auf der Empore weitere Klinikbetten. Chefarzt Dr. Almaviva hat Theater-Spielen für seine heutige Therapiestunde vorgesehen. Und alle: Patienten, Besucher, Angestellte und er selber wie auch sein Doktorand, ein gewisser Figaro, haben mit zu spielen und je nach Bedarf über ihre Anstaltskleidung oder ihren Berufskittel ein Kostüm überzustreifen. Der Doktor übernimmt zur Rolle des Conte noch dazu die des Regisseurs, Doktorand Figaro die Hauptrolle im Stück und die Regieassistenz, Vorstandssekretärin Rosina übernimmt gnädig die Rolle der Contessa, Hausmeister Antonio die des Gärtners. Die übrigen Rollen fallen den mehr oder weniger stark Gestörten zu. Punk Barbarina kuriert wohl gerade ihre Drogensucht aus und leidet an Halluzinationen. Basilio/Don Curzio ist wohl schizophren und kann deswegen leicht eine Doppelrolle spielen. Cherubino hat den üblichen Erotomanen Tick, Hausfrau Marcellina hat einen Bügeltick, der alte Bartolo, (ein Patient oder ein Besucher?)ist ob seiner Fresssucht leicht daneben. Und Susanna, die etwas benommen aus ihrem Klinikbett klettert, was hat sie eigentlich? Ist sie hochgradig depressiv? Haben ihr vielleicht irgendwelche Machos übel mitgespielt? Besteht die Therapie darin, dass ihr zum Ausgleich jetzt gleich drei Männer den Hof machen? Die Regie überlässt die Antwort der Phantasie der Zuschauer. Le Nozze di Figaro noch immer ein Reigen der Liebe, doch ein irrer Liebesreigen im Irrenhaus.
Gespielt wird fast immer auf drei oder vier Ebenen gleichzeitig. Während Regieassistent Figaro der Patientin Susanna ihre Rolle erklärt, macht sich Dr. Almaviva mit Barbarina zu schaffen, repariert Hausmeister Antonio an der Treppe, tändelt Sekretärin Rosina auf der Empore mit dem Patienten Cherubino herum – um nur ein Beispiel für die gespielte Simultaneität des Geschehens zu nennen.
Die Regie erfindet zwar eine neue Geschichte. Doch die Struktur des Librettos tastet sie nicht an. Ganz wie im Libretto dem Conte, so läuft auch in der Therapiestunde dem Doktor die Handlung aus dem Ruder. Wie der Conte wird er zum Getriebenen, zum Spielball der Patienten, als diese sich mit dem Assistenten und der Sekretärin gegen ihn verbünden. Und im Finale kniet nicht galant der Conte vor der Contessa und bittet um Pardon. Da hockt der Doktor inmitten der umgestürzten Betten, bittet die Sekretärin und die Patienten um Verzeihung und kann nur konsterniert feststellen, dass das Theater sich verselbständigt hat, dass er wohl selber der Irre ist, mit dem die vielleicht (?) geheilten Irren ihr Spiel treiben. Wie der Conte Almaviva, so ist auch der Doktor Almaviva der Verlierer im irren Spiel.
So gekonnt dieses irre Spiel auch in Szene gesetzt wird, so unterhaltsam es auch für die Zuschauer ist – zumindest für den größeren Teil – das Motiv des Irrenhauses als Spielort ist nicht unbedingt neu. Barrie Kosky hatte den Fliegenden Holländer schon vor einigen Jahren im „Hospiz zu Charenton“ spielen lassen, Senta in eine psychiatrische Klinik gesteckt und sie zusammen mit den übrigen Patienten ihre Wahnvorstellungen noch einmal aufführen lassen. Claus Guths Wiener Tannhäuser – um noch ein weiteres Beispiel zu nennen – endet im Otto Wagner-Hospiz. Figaros Hochzeit als Therapiestunde für Gestörte in einer geschlossenen Anstalt habe ich allerdings noch nie gesehen. Dass entgegen allen möglichen Vorurteilen auch dieses Konzept funktioniert, war jetzt im Theater an der Wien zu sehen oder vielleicht auch zu bewundern. Im Theater an der Wien, wo man diese Konzeption konsequent in Szene zu setzen weiß und wo ein Ensemble herausragender Sängerschauspieler, die sich begeistert und begeisternd auf diese Konzeption einlassen, auf der Bühne singt und agiert.
Dass eine solche Regiekonzeption, die die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf die Szene lenken will, vielleicht nicht unbedingt Maestro Minkowski und seinen Musiciens du Louvre Grenoble zusagte, ist verständlich. Erst nach der Pause, als die Regie merklich allen Aktionismus bremste, da liefen Maestro und Orchester zur gewohnten Hochform auf. In den ersten beiden Akten – so schien es mir – ging die Musik angesichts des Wirbels auf der Szene beinahe unter. Nur bei den großen Arien, als das ‚Regietheater‘ im ersten und zweiten Akt gleichsam inne hielt, alle Figuren in einer Art Traumlicht erstarren ließ, da brillierten Orchesterklang und Gesang. „Prima la musica […]“.
Wir sahen die Aufführung am 18. April, die dritte Aufführung nach der Premiere am 11. April 2015.
Zwei Abende später – wieder im Theater an der Wien. Kein Regietheater, kein Musiktheater. Nichts was von der Musik ablenkt. Wieder ein Highlight aus dem 18. Jahrhundert, eine absolute Rarität, Gesangstars wie Max Emanuel Cencic und Julia Lezhaneva auf der Bühne. Ein begeistertes Publikum.
Eine konzertante Aufführung von Siroe (Dresdner Fassung von 1763) Dramma per musica. Musik von Johann Adolf Hasse auf ein Libretto von Metastasio.
Ja, wir wissen schon, dass im späten Settecento mit dem nahenden Ende des ‚aufgeklärten Absolutismus‘ auch die große Zeit der opera seria zu Ende ging und damit auch Hasse und Metastasio zur Welt von gestern gehörten. Und die Musikhistoriker belehren uns, dass bei Hasse gegenüber der Brillanz der Gesangstimmen das Orchester nur eine sekundäre Funktion hat, wenige Jahre später bei Mozart es schon ein Gleichgewicht zwischen Gesang und Orchesterklang gibt, bis schließlich bei Wagner das Orchester dominant wird. Ein Befund, der dem aufmerksamen Opernbesucher nicht entgehen kann.
Aber um politische, gesellschaftliche, musikhistorische Entwicklungen, so bedeutsam sie auch sind, geht es gar nicht. Es geht darum, eine so schöne, brillante und höchst kunstvolle Musik, wie sie einst Hasse komponierte und die auch heute noch das Publikum begeistert, vor dem Vergessen zu bewahren. Im Theater an der Wien ist dies gelungen.
Wir besuchten die Aufführung am 21. April 2015.