2671 (sic!) Male wurde – so weiß es der Besetzungszettel – Gounods Faust in der Opéra National de Paris schon aufgeführt: Herz und Schmerz, Liebe, Tod und Teufel rühren und begeistern noch immer und immer wieder. Wir Opernbesucher haben halt einen Hang zum Kitsch. Wir leiden und freuen uns mit Arabella, werden melancholisch mit der Marschallin, weinen mit der Kameliendame (wahlweise mit Gilda oder mit Miss Butterfly). Bei Faust und Marguerite indes da wird es ganz schlimm. Da reiht sich Ohrwurm an Ohrwurm. Da ‚versinken, ertrinken‘ wir in Rührseligkeit. Mit einem Wort: da gibt es Kitsch im Übermaß. „Die schöne Musik! Da muß ma weinen“. Ja, warum soll man sich auch der Sentimentalität schämen. Zur berühmten Tenorarie (Faust unter dem Balkon der Marguerite): „Salut! demeure chaste et pure“ legte die kleine Blonde in der Reihe vor mir ihr Köpfchen auf die Schulter ihres Liebsten. Nein, geschluchzt hat sie nicht. Das überließ sie nun doch den Akteuren auf der Bühne.
Rettung schafft, wenn sie denn will, von all dem Süßen die Regie. Vielleicht mit den Mitteln der Parodie und der Ironie? Oder vielleicht damit, dass sie eine neue Geschichte erfindet? Beim Amsterdamer Faust hatte die Regie eine neue Geschichte erfunden. Da ist aus dem greisen Doktor ein dynamischer junger Professor der Biochemie geworden, der an einem Homunkulus Projekt arbeitet und für den es keine Grenzen gibt. Marguerite ist nur ein Präparat, ein Produkt der Experimentierfreudigkeit des Professors. Von solchen Experimenten, wie sie Àlex Ollé von La Fura dels Baus in Amsterdam präsentiert, will man in Paris nichts wissen. Da wird die Geschichte vom Verführer Faust und der ach so unschuldig armen Marguerite und dem bösen Méphistophélés halt so in Szene gesetzt, wie sie im Buche steht – und doch nicht ganz so.
Für das Finale hat sich die Regie einen Clou aufbewahrt. Dort löst sie ein Rätsel der Szene, das den Zuschauer von Anfang an irritiert hat. Einziger Spielort ist eine labyrinthisch angelegte Bibliothek, ein Spielort, der je nach Szene um ein paar eilig herein geschobene Kulissen ergänzt wird. Eine Bar für Auerbachs Keller, Bäume und Bänke für die Gartenszene, Kerzen für die Kirchenszene usw. Die labyrinthische Bibliothek ein Verweis auf Borges und Die Bibliothek von Babel oder vielleicht ein Verweis auf Piranesis Carceri? Verweise, wenn es denn welche sind, die nicht weiter führen. Erst im Finale wird das Regiekonzept deutlich. Die Bibliothek ist der Sterbeort des Doktor Faust, Ort seines Selbstmords. Alles war nur ein Traum, ein Delirium einer sterbenden Bibliotheksratte. Es gibt keine Flucht in die Luxuria und in die Jugend, und es gibt auch keine Rettung – weder für Faust noch für Marguerite. Das scheinbar so unschuldige Mägdelein war nichts als das Traumgespinst eines sterbenden Lustgreises.
All der Kitsch und all die Sentimentalitäten, die wir Zuschauer gesehen und gehört haben, waren nichts anderes als ein Traum. La Vida es Sueño. Und la petite blonde in der Reihe vor mir? Sie wird nach der Oper erfahren, dass der schöne Prinz, von dem sie träumt, nichts anderes ist als ein Aufguss von Charles Bovary. Vielleicht. Die Oper als Desillusionstheater. War dies die Grundkonzeption des französischen Theatermachers Jean-Romain Vesperini? Vielleicht.
Ehe ich es vergesse: in der Bastille wurde in allen Rollen – allen voran Michael Fabiano in der Rolle des Faust – wunderschön, wundersüß gesungen. Es muss ja nicht immer Wagner, es muss ja nicht immer „höchste Lust“ sein. Manchmal tut’s auch ein bisschen Lust alla Gounod. Ein schöner Abend in der Bastille Oper.
Wir sahen am 28. März 2015 die neunte Aufführung in dieser Inszenierung.
Und Le Cid im Palais Garnier? Eine schöne, eine gefällige Musik, wohl nicht sonderlich anspruchsvoll. Ein Startenor (Roberto Alagna) in der Titelrolle. Auch alle anderen Rollen ansprechend besetzt – ganz wie es dem Niveau eines großen Hauses entspricht.
Eine aufwendige Ausstattung. Ein Regie, die sich alle Mühe gibt, einen Klassiker der französischen Literatur in Szene zu setzen, einen Klassiker, mit dem seit ewigen Zeiten französische Schüler gequält werden und an dem sich die Studenten der französischen Philologie im Proseminar abarbeiten. Ein klassisches, genauer: ein barockes Stück, aus dem Massenet und seine Librettisten in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine wenig erfolgreiche Literaturoper machten.
Die Regie verzichtet auf alle Mittelalter Klischees, löst das Stück auch aus dem Corneille Ambiente und verlegt das Geschehen unter spanische Militärs des späten 19. Jahrhunderts. Mit einem Wort: sie transferiert die Handlung in die Entstehungszeit der Oper. Und mit dieser Pseudomodernisierung wird noch weniger verständlich, dass der junge Cid den Vater seiner Anverlobten im Duell töten muss, weil besagter, ein ehrgeiziger Offizier, mit dem schon ausgemusterten, aber nicht weniger ehrgeizigen Papa des jungen Mannes in Streit geraten ist. Aus dem Proseminar wissen wir noch, dass es in diesem Stück um den Konflikt zwischen honneur/devoir und amour/passion geht und Tochter Chimène den Kopf des ‚Ehrenmörders‘ fordern muss, obwohl sie den unversehrten Mann doch eigentlich im Bett haben möchte.
In der Übernahme einer Produktion der Opéra Marseille, die jetzt im Palais Garnier zu sehen ist, nimmt man das Ganze ernst. Da lässt man Offiziere und Damen in hübschen Uniformen bzw. Roben auftreten, gesellt zu diesen einen Spielzeugkönig in Paradeuniform und hohe Kleriker in schwarzen Soutanen und roten Käppchen. Die trauernde Chimène darf sich schon mal im schwarzen Unterkleid als Anna Magnani präsentieren. Der Cid darf als Oberkommandierender sein ’heiliges Schwert‘ im Kolonialkrieg (?) schwingen. Zur Siegesparade schwenken die Kinderlein spanische Fähnchen, und der Spielzeugkönig hat noch einmal einen Auftritt. Und der von allen Seiten unter Druck gesetzten Chimène ist am Ende der lebendige junge Mann dann doch lieber als der tote Papa. Schafott oder Bett – das ist hier die Frage.
Was für eine schöne und vor allem unterhaltsame Parodie und meinetwegen sogar eine Satire auf stocksteife, dümmliche Militärs und deren angeblichen Ehrenkodex hätte man doch aus diesem verstaubten Stück machen können. Und der um den Papa jammernden Chimène hätte man die Sprechstunde des Doktor Freud empfehlen können. Nichts von alledem war in Paris zu sehen. Dort hält man sich, gefangen in der französischen Tradition, an die Bienséance. Ein langweiliger, ein verlorener Abend. Allgemeine Begeisterung im ausverkauften Palais Garnier.
Wir sahen die Aufführung am 27. März 2015, die erste Vorstellung dieser Übernahme aus Marseille.