Vor nunmehr mehr als elf Jahren feierten Christof Nels Strauss- und Christof Loys Mozart-Inszenierung ihre Frankfurter Premieren. Soll man sich wirklich solch betagte Inszenierungen ansehen? Bei Wiederaufnahmen dieser Art bin ich im Allgemeinen skeptisch. Zu oft wird man in den großen Häusern mit gänzlich abgespielten Versionen abgespeist. Ein Vorurteil, das für die beiden Frankfurter Wiederaufnahmen nicht zutrifft.
Nels witzige und parodistische Inszenierung, in der er den Hofmannstal Schwulst, dieses Gemenge aus fernöstlicher Märchenwelt, Ehedrama und Dr. Freud-Klischees auf deren Kern reduziert und in die Alltagswelt zweier Paare verlegt, zweier Paare, die offensichtlich mit ihrer Sexualität nicht zurechtkommen, hat kaum Staub angesetzt. Eine Inszenierung, die offensichtlich dem ironisch-parodistischem Motto folgt: nur das Spießerglück im trauten Heim heilt die Impotenz (bei Kaiser und Färber), die Frigidität (bei der Kaiserin) und die nur mühsam unterdrückte Sexgier (bei der Färberin). Zu dieser Freud-Verballhornung gesellt sich die Karikierung der Personen zu grotesken Gestalten: die Färberin ist ein Punk, die Kaiserin eine Käthe Kruse-Puppe, der Kaiser ist ein dekadenter Habsburger, Gutmensch Färber ein Pantoffelheld, und der Falke schließlich ist ein Jüngling mit langer Nase (!), der auf dem Bett der Kaiserin hockt. Mit anderen Worten: Nels Inszenierung setzt auf Parodie als durchgängige Grundkonzeption – und vielleicht wirkt sie deswegen nicht verstaubt.
Und die Musik? Maestro Weigle setzt wohl nicht so sehr wie Petrenko in München auf das selige Pianissimo, ein Pianissimo, das bei der Münchner Frau ohne Schatten bis zum Exzess ausgekostet wird und auf die Zuhörer eine geradezu hypnotisierende Wirkung ausübt. In Frankfurt nimmt man es etwas weniger manieriert. Die so berüchtigte rauschhafte Klangfarbenpracht der Strauss Musik zelebriert man selbstverständlich auch hier.
Ob die Frankfurter Frau ohne Schatten mit der Münchner mithalten könne? Eine Frage, über die sich in der Pause zwei junge Männer fast zerstritten hätten. Ich könnte mich nicht entscheiden. Vielleicht ist die Münchner im musikalischen Part noch eingängiger. In der Inszenierung, die auch beim Freud-Thema ansetzt, ist sie wohl konsequenter. Dort steckt Theatermacher Warlikomski die beiden psychisch gestörten Paare gleich in die Klinik des Dr. Freud – eine Klinik mit angeschlossenem Waisenhaus. Und damit ist für Nachwuchs so oder so gesorgt.
Und Loys Deutung der Entführung? Ich bin seit vielen Jahren ’bekennender Loy-Fan‘. Und dies schon seit Düsseldorfer Zeiten, als Loy mit der Manon, der Lucia, der Finta Giardiniera, um nur ein paar Beispiele zu nennen, sein Publikum begeisterte. Und auch in Frankfurt gelingt ihm dies scheinbar mühelos und so faszinierend, dass die zahlreichen Schulklassen, die im Hause waren (vierzehn bis fünfzehnjährige Jungen und Mädels), noch nicht einmal einen Huster wagten.
Theatermacher Loy inszeniert kein orientalisches Märchen, keine Türkenoper, keine Entführung aus dem Asylantenheim und keine missglückte Flucht aus der Türkenenklave Neukölln. Er braucht auch keine opulente Ausstattung. Ihm genügen zwei Stühle, zwei Tische, zwei Vorhänge. Minimalismus ist auch in der Entführung Loys Stil, um nicht zu sagen Loys Markenzeichen.
Nichts soll von den Personen, vom inneren Drama, das diese erleiden, ablenken. Und damit dieses Drama sich nicht nur in der Musik, sondern auch in der Sprache ereigne – so die Konzeption der Inszenierung – werden die in den landläufigen Aufführungen so gern zusammengestrichenen Dialoge fast ungekürzt gesprochen. Die Entführung ist eben nicht nur ein Reigen von wunderschöner Arien, Duetten und Quartetten, die wir alle zu kennen meinen, sondern auch ein Kammerspiel, in dem es um Liebe (um enttäuschte Liebe und um konventionelle Liebe), um ein Beziehungsgeflecht und vor allem um Todesängste geht. Erst angesichts eines scheinbar sicheren qualvollen Todes entdecken die Paare einander, bekennt Konstanze sich zu Belmonte, der ihr beim Widersehn wie ein unbedarfter in die Liebe verliebter Gimpel vorkam. (Die Personenregie macht dies überdeutlich: während Belmonte vom „Schmerz der Trennung“ singt oder besser: jammert, schaut Konstanze ihn noch nicht einmal an, setzt sich an den Tisch, an dem sie zuvor mit Bassa Selim zu Abend gegessen und gestritten hatte – Und träumt von Selim?). Die Entführung ein letztlich zeitloses Schauspiel um Eros und Thanatos mit der Musik von Mozart.
Dass in Der Entführung und nicht minder in Der Frau ohne Schatten brillant gesungen und gespielt wird – ganz wie es dem hohen Niveau des Hauses entspricht – das versteht sich von selber.
Soll man sich scheinbar betagte Wiederaufnahmen ansehen? An der Oper Frankfurt – so bestätigen es die beiden Aufführungen – kann man dies ohne Gefahr tun.
Wir sahen Die Entführung aus dem Serail am 7. November 2014 – die 51. Vorstellung seit der Premiere am 19. Oktober 2003. Die Frau ohne Schatten am 6. November 2014 – die 28. Vorstellung seit der Premiere am 2. Februar 2003.