Vielleicht sollte ich wieder das Klischee zitieren, dass man (manchmal) in die ‚tiefe deutsche Provinz‘ reisen sollte, um ungewöhnliche Wagner Aufführungen zu erleben. Beim Dessauer Ring, der vor zwei Jahren mit der Götterdämmerung begonnen wurde und bei dem man inzwischen zur Walküre gelangt ist, stimmt das Klischee in jeder Weise.
Ein brillant singendes Ensemble (allen voran Iordanka Derilova in der Titelrolle und Ulf Paulsen als Wotan), ein Orchester, das unter der Leitung von Maestro Antony Hermus auf alles konventionelle Gedröhne verzichtet und stattdessen auf langsame Tempi und vor allem auf das Piano setzt, auf einen eher sanften Wagner und mit dieser Konzeption nicht ‚berauscht‘, sondern berührt. Eine ehrgeizige, intermedial höchst beschlagene Regie (André Brücker), die sich dieses Mal nicht an Bob Wilson orientiert und auch nicht wie in der Götterdämmerung und im Siegfried den Bauhausstil ins Zentrum des Interesses rückt, wenngleich beim Auftritt der Walküren Oskar Schlemmers Triadisches Ballett wohl zitiert wird und es am Spiel der Farben und Figuren, die sich als Hologramme ’realisieren‘, d.h. an Verweisen auf die Bauhaus Künstler nicht mangelt.
Jetzt in der Walküre orientiert sich die Regie primär an der Welt des Films oder, wenn man so will, an der digitalen Welt, spielt mit einer Fülle von fragmentarischen Verweisen und appelliert an das Kino-Gedächtnis der Zuschauer. Wer als Wagnerianer nicht zugleich ein Kino Fan ist, der tut sich schwer, die Referenzen zu erkennen und zu gewichten – trotz all der Hilfestellungen, die die Regie den eher Unbedarften anbietet. Der gehetzte Siegfried – in Kostüm und Maske erinnert er an den Siegfried aus Fritz Langs Nibelungen – flüchtet sich in das Archiv eines Hollywood Filmstudios, und Sieglinde – wohl im Kriemhilde Kostüm – reicht ihm zur Erquickung eine Dose Cola und Fastfood aus der Plastikpackung. Hunding ist wohl der dynamische Archivar oder vielleicht auch der Produzent oder vielleicht auch eine Filmfigur, ein Boss, der, nach deren Outfit zu urteilen, seine Bodyguards aus einem Actionfilm über islamische Terroristen her geholt hat. Wagners „Stamm einer mächtigen Esche“ ist zu einem Bündel herabhängender Filmrollen geworden, an denen sich Siegmund die Finger verbrennt.
Ja, und wer von den Wagnerianern immer noch nicht gemerkt hat, dass diese Dessauer Walküre uns nichts von Germanen oder Kapitalisten, nichts von machtlüsternen Göttern und leidenschaftlichen Menschen erzählen will, sondern uns vom Theater weg in ein anderes Medium entführen will, dem wird die Regiekonzeption überdeutlich im zweiten Akt signalisiert. Wotan ist ein Produzent und Regisseur, der mit seinen Filmrollen spielt, Brünnhilde die gelangweilte Assistentin, die das Geschwätz des Alten kaum noch erträgt und die im zweiten Teil auf dem Regiestuhl Platz nehmen darf, die die Szenen Siegmund- Sieglinde von einem Kameramann aufnehmen lässt und diese entsprechend arrangiert, die eigenmächtig das Drehbuch verändert und daraufhin vom Produzenten geschasst wird. Nicht genug damit. Die Filmszenen auf dem Theater sind referentiell angelegt. Es wimmelt es nur so von Verweisen auf die Filmgeschichte. Zwei Beispiele: die erste Szene des zweiten Akts verweist auf die Schlussszene in Godards Le Mépris: Fritz Lang in der Rolle des Regisseurs Fritz Lang schaut von der Dachterrasse der Villa Malaparte auf das Lichtermeer der fernen Stadt. Der mit seinen Filmrollen spielende Regisseur Wotan tut es ihm gleich. Wie der Protagonist in Hitchcocks Actionfilm North by Northwest (Der unsichtbare Dritte) flieht das Wälsungenpaar durch die Filmlandschaft der USA bis hin zum Mount Rushmore National. Und damit auch beim Zuschauer nicht der geringste Zweifel aufkommt, dass dieser Siegmund ein Produkt aus der Traumfabrik ist, wird auch noch in großen Lettern der Schriftzug Hollywood eingeblendet. Nur konsequent ist es dann, dass wir im dritten Akt in einer Hollywood Revue oder vielleicht auch auf dem Broadway oder vielleicht auch bei den schwulen Matrosen in Fassbinders La Querelle angelangt sind.
Kein Zweifel, was sich da in Dessau auf der Bühne tut, das ist alles sehr spektakulär und unterhaltsam dazu. So ganz neu und so originell, wie es auf den ersten Blick scheint, ist es allerdings nicht. Was die Regie bietet, das ist von der Struktur nichts anderes als ‚Theater auf dem Theater‘, ein gern genutzter Metatheatertrick, der hier zum Film auf dem Theater variiert wird. Und wenn wie bei der Dessauer Walküre dieser Film auf dem Theater auch noch mit Bauhauszitaten angereichert wird, dann wird dem Zuschauer fürwahr ein großes Spektakel geboten. Doch, so mag man vielleicht bedenken, besteht nicht die Gefahr, dass eine Zentrierung auf die Kino-und Fernsehwelt im Theater, so aktuell eine solche Konzeption auch ist, das Proprium des Theaters, eben das unmittelbare Erleben des Spiels zerstört? Ein modernes Medium zerstört ein altes? Oder bereichert es ein altes? Wie dem auch sei. Das Publikum war begeistert – und ich auch. Ein großer Opernabend in der ‚fernen deutschen Provinz‘.
Wir sahen die Premiere am 27. September 2014.