Theatermacher Romeo Castellucci vermarktet Glucks Orpheus und Eurydice gleich zweimal: in der italienischen Version bei den Wiener Festwochen 2014 und jetzt in Brüssel in der französischen Version: eine Inszenierung, die mich beim ersten Sehen in Wien mit ihrem schamlosen Voyeurismus und ihrem vollständigen Mangel an Respekt vor einer Todkranken sehr verärgert, um nicht zu sagen, abgestoßen hatte.
Jetzt in Brüssel hat die Regie das so plakative, beschämende Spiel mit der Koma Patientin abgemildert und es dafür mit triefender Rührseligkeit überladen. War es in Wien eine junge Tänzerin, der eine große Karriere bevorstand und die von einem Augenblick auf den anderen in einen Zustand kompletter Bewegungsunfähigkeit gefallen war, so ist es jetzt eine kinderliebe junge Frau aus der Unterschicht, der dieses Schicksal widerfährt. Und natürlich werden die entsprechenden ergänzenden Klischees aufgeboten: der untröstliche junge Ehemann, die Kinderlein, die zerstörte Idylle. Damit wir uns nicht missverstehen: die Geschichte von den beiden Schwerstkranken ist keine Fiktion, ist kein Theater, ist Wirklichkeit, keine mit den Mitteln des Theaters sublimierte oder gesteigerte Wirklichkeit, sondern krude Realität. Oder vielleicht doch nicht?
Die Regie tut mit ihrem ausführlichen Krankheitsbericht und der Vorgeschichte der jungen Frau, mit den Videoaufnahmen vom Weg zum Hospital, mit den Live Aufnahmen von der Klinik, vom Zimmer der Patientin, vom Gesicht und vom Haar der Patientin, die, über Kopfhörer angeschlossen, der Musik live folgen soll, bis hin zu den Studiobedingungen im Opernhaus alles, um einen Anschein von Wirklichkeit zu produzieren. Doch war es nun wirklich die Wirklichkeit einer todkranken jungen Frau, die wir als Opernvoyeurs gesehen haben oder war das alles, was wir ansehen mussten, doch nur eine besonders raffinierte Form von Fiktion, bei der sich die Grenzen zur Wirklichkeit hin verwischen. War die Verwirrung der Zuschauer, das ‚wirkliche‘ Ziel, die ‚wirkliche‘ Grundkonzeption der Regie? Ich weiß es nicht.
Doch bleibt die grundsätzliche Frage bestehen: soll man, darf man, wenn man eine besonders ausgefallene Variante des Orpheus Mythos in Szene setzen will, das erbarmungswürdige Schicksal einer wirklichen Person mit fiktivem Geschehen vermischen, eine schwerkranke reale Person zu einer Figur des Theaters machen und diese und deren Krankheit zum Objekt der Schaulust des Publikums machen? Orpheus und Eurydike, das Theater der Sensationen mit einer Todgeweihten im Zentrum des Interesses? Sollte es das sein?
Ganz abgesehen davon: die Regie brauchte für ihre Variante des Orpheus Mythos gar nicht die im Wortverstande eingeschriebene und eingeblendete Erzählung von der Koma Patientin. Die Erzählung stört die an sich schon schlüssige und originelle Variante des Mythos doch nur: der Abstieg in die Unterwelt ist ein Abstieg in die Hölle der Intensivstationen. Alle Hoffnungen, die die „Götter in Weiß“ dem Besucher ihres Reiches machen, sind nur schnöde Illusionen. Aus der Hölle der Intensivstation gibt es keine Rückkehr ins Leben. Das lieto fine ist nur ein Arkadien Klischee, ein gemaltes Traumglück.
Eine Inszenierung, über die man sich ärgern, sich empören kann, die man, wie ich das noch in Wien getan habe, schlicht ablehnen kann und die mich jetzt in der Brüsseler Fassung eher unsicher gemacht hat. Eine Inszenierung, die zumindest originell, peinlich originell ist und die die so wunderschöne Gluck Musik mit Texttafeln in der Brecht Manie und mit, wenn auch letztlich zurückhaltenden, Videobildern zum Soundtrack degradiert. Und dabei wurde doch in Wien und wohl mehr noch in Brüssel so herausragend schön musiziert und gesungen. Die Regie singt das Lied vom Tode. Die Musik erzählt vom Gegenteil.
Wir sahen die Aufführung im Théâtre de la Monnaie am 27. Juni. Die Premiere war am 18. Juni 2014.
Welch eine Befreiung, welch eine Erholung, nach dieser so zwiespältigen Brüsseler Aufführung am nächsten Abend in Paris im Palais Garnier Robert Wilsons Inszenierung von L’Incoronazione di Poppea zu erleben. Keine Frage, man muss den Manierismus eines Wilson mögen. Man muss sich an seinen manierierten Stil gewöhnen: an die vollkommen antirealistische Szene, an die rituellen, feierlichen Bewegungen der Darsteller, an ein Theater der ‚gedämpften‘ Leidenschaften, das, mag das Geschehen auch von Sex und Crime bestimmt sein, ganz im Sinne des klassischen französischen Theaters, alle konkrete Gewalt, alle Ausbrüche von Leidenschaft nicht in Aktionen, sondern in Sprache und jetzt in der Oper Monteverdis in Musik transponiert. Ja, und wenn dann, wie man es von der Opéra National erwartet, alle Rollen glänzend besetzt sind, dann sieht und hört man Oper vom Allerfeinsten. Hier wird anders als bei Castelluccis Orfeo keine Betroffenheit eingefordert. Hier ist Oper ein Fest der Schönheit, der Grazie, des Ästhetizismus, eben Oper als höfisches Fest.
Wir sahen die Aufführung am 28. Juni 2014.