Dass Händels Oratorien eine Affinität zur Oper besitzen und sich dem entsprechend als Musiktheater inszenieren lassen, ist dem Opernbesucher nicht neu. Hat er doch in den letzten Jahren vom Trionfo del Tempo e del Disinganno über den Saul bis hin zur Semele so manches Opernoratorium gesehen und gehört und dabei Versionen von Bieito, Carsen, Flimm, Loy und so manch anderem Theatermacher erlebt.
Doch Händels Messias, dessen Libretto vor allem auf Zitaten aus dem Alten Testament und der Apokalypse beruht, als Musiktheater zu inszenieren, geht das überhaupt? Ja, das geht, so zeigt und beweist es uns Claus Guth in seiner szenischen Fassung, die jetzt in der Osterzeit am Theater an der Wien wieder aufgenommen wurde. Es geht, wenn man – dies ist der erste Eindruck, der sich aufdrängt – es geht, wenn man das Oratorium radikal säkularisiert und es gegen die Musik und gegen das Libretto dreht. Es geht, wenn man nicht die Christusmythe nacherzählt, sondern in einer Art Bilderbogen, zu dem die Drehbühne ausgiebig genutzt wird, vom Leiden und Sterben eines unglücklichen Außenseiters und von der Reaktion seiner Familie auf dessen Tod erzählt. Eine Grundkonzeption, die vom Anfang bis zum Ende konsequent durchgezogen wird und die auch den zunächst skeptischen oder gar befremdeten Zuschauer überzeugt und fasziniert. Und dies nicht nur, weil diese Messiah – Version höchst brillant inszeniert wird, weil dort nicht minder brillant musiziert und gesungen wird, sondern auch weil die Christusmythe oder die Christustragödie in ihrer konsequenten Säkularisierung ihre uns vielleicht fern stehende heilsgeschichtliche Aura verliert und zur Tragödie eines gescheiterten und verzweifelten Menschen von heute wird.
Damit beim Publikum auch nicht der geringste Zweifel an der Säkularisierungstendenz aufkommen kann, zeigt die Inszenierung gleich zu Beginn den Vertreter der Orthodoxie, den Priester, der die Trauergemeinde trösten soll, als Alkoholiker, der an seiner Aufgabe und seinem Amt zweifelt. Nicht genug damit. Im Finale wird der Priester zum berühmten Duett „Tod, wo ist dein Stachel“ vollständig betrunken sein und mit dem ebenfalls betrunkenen Bruder des Verstorbenen einen grotesken Tanz aufführen. Säkularisiert die Regie den Messiah nicht nur? Parodiert sie ihn noch dazu? Die Priesterszenen sind nicht die einzigen, die parodistische Züge tragen. Zur Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ und zum Accompagnato „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis“ stellt die Regie die Abendmahlszene nach, eine Szene, in der der Geist des Toten erscheint, der ältere Bruder dem jüngeren bedeutet, dass er um dessen Beziehung zur Frau des Verstorbenen weiß, eine Szene,in der der ältere Bruder den Priester gewaltsam zum Gebet zwingt und in der das groteske Trinkgelage beginnt. Die Abendmahlszene als Leichenschmaus und Familienabrechnung.
Doch neben diesen, sagen wir es vorsichtig, ambivalenten Szenen, stehen Szenen von unbedingter oder auch erschütternder Ernsthaftigkeit wie die Auftritte des verzweifelten Außenseiters (eine pantomimische Rolle, die von einem Tänzer gespielt wird) oder die der gehörlosen Gebärdendarstellerin, die nichts versteht und die intuitiv doch alles versteht. Von geradezu dramatischer Wucht – szenisch und musikalisch – sind die Chorszenen, die auf die Auftritte des Chores in einer griechischen Tragödie verweisen und die, so schön und ergreifend manche solistischen Gesangspartien auch sind, die Aufführung geradezu dominieren.
Händels Messias glaubt man schon so viele Male im Laufe der Jahre gehört zu haben. Doch so eindrucksvoll und zugleich so zurückhaltend wie Christophe Rousset, Claus Guth und ein hochkarätiges Ensemble ihn jetzt in Wien zelebrieren, habe ich den Messias wohl bisher noch nicht erlebt.
Wir sahen die Aufführung am Abend des Gründonnerstags, am 17. April. Es war die zweite Vorstellung nach der Premiere am 14. April 2014.