Recycling an der Berliner Staatsoper – Der fliegende Holländer aus der Schweiz

Bei den Schweizern da liegen nicht nur die Goldbarren in den Tresoren,  nein dort liegen auch goldige Inszenierungen in den Depots – so mag man in der Intendanz in Berlin spekuliert haben  und sich schnell, bevor die Konkurrenz zugreifen konnte, eine inzwischen fünf Jahre alte Holländer-Produktion aus Basel gesichert, eine Stölzl Inszenierung,  die ich schon im Februar 2009 dort gesehen und zu der ich damals im Blog auch ein paar Bemerkungen notiert  hatte.

 Alles, was ich damals notiert hatte, trifft auch auf den Berliner Recycling Holländer zu – vielleicht mit dem Unterschied, dass in Berlin die Rollen etwas hochkarätiger besetzt sind und dass an diesem Abend die Staatskapelle Berlin noch weniger in Topform war als damals das Basler Sinfonieorchester. Dass Wagner, der neuerdings gern verhalten zelebriert wird, auch noch immer  – zumindest in der Ouvertüre – als Lärmorgie präsentiert werden kann, fand ich doch schon ziemlich überraschend. Es stürmt halt auf dem Meere, dann stürmt es eben auch im Graben. Aber vielleicht ging es Maestro Harding gar nicht um gewaltiges Meeresrauschen. Vielleicht ging es ihm um eine Symbiose mit der Figur des Holländers, den die Regie trotz all des Erlösungsgejammers, das dieser vom sich gibt, als gewalttätigen Macho-Piraten begreift, der sich an schwachen und kranken Frauen vergreift und diese instrumentalisiert.

Doch das Macho-Motiv ist nur ein Nebenmotiv der Inszenierung. Das alles dominierende Leitmotiv ist die Literarisierung des Lebens nebst ihren fatalen Folgen, eine Haltung, die sich aus einem Übermaß an Lektüre ergibt, eine Haltung,  die im Extremfall  – wie im Fall der Senta – zur ‚Krankheit zum Tode‘  führt.

 

Wie das Basler Produktionsteam diese Grundkonzeption realisiert, das habe ich schon anlässlich der Basler Aufführung ausgeführt. Ich zitiere im Folgenden aus diesen Bemerkungen.

Welch eine Überraschung. Philipp Stölzl und sein Produktionsteam, die noch vor knapp zwei Jahren in Salzburg Benvenuto Cellini auf eine gigantische Videoclip-Show reduzierten und eine technische Materialschlacht veranstalteten, als wollten sie sich für die Bregenzer Seebühne qualifizieren, sind zu Romantikern geworden, haben romantische Literatur und Malerei für sich entdeckt und nutzen beide als Referenzen  für eine zugleich subtile, spannende und unterhaltsame Holländer  Inszenierung. Unnötig  zu sagen, dass es bei einer Inszenierung, die mit Materialien der Romantik arbeitet, Caspar David Friedrich Zitate in Fülle gibt. Interessanter indes als die zu erwartenden Bildzitate aus romantischer Malerei sind die literarischen Referenzen. Ausgangspunkt ist das berühmte Motiv vom Lektüreschaden, das einstens Flaubert in seiner Madame Bovary für seine Abrechnung  mit einer heruntergekommenen, verbrauchten romantischen Literatur nutzte. Im Basler Holländer, wo man Wagners Untertitel „romantische Oper“ im Wortverstande nimmt, wird die Romantik nicht entzaubert. Ganz im Gegenteil. Sie wird als eine der Welt der Imaginationen, der Bücher und der Bilder, ernst genommen und als „Krankheit zum Tode“ gedeutet.

Die romantische Welt ist Sentas Welt, in der sie sich von Anfang an eingerichtet hat und die sie um keinen Preis verlassen will. Und so ist es nur konsequent, dass zur Ouvertüre eine noch jugendliche Senta sich  zur Nachtzeit in der Bibliothek des großbürgerlichen  Hauses verschließt, sich den Folianten mit der Geschichte vom Fliegenden Holländer sucht und liest und liest. In  ihrer Imagination wird Literatur zur Wirklichkeit, wird das Geschehen, werden die Gestalten lebendig, treten  sie ganz konkret aus dem großen Gemälde mit seinen Felsen und seinem drohenden Meer, das fast eine ganze Wand in der Bibliothek einnimmt, heraus und machen  die Schaluppe des Vaters an den Sesseln in der Bibliothek fest. Der Holländer, kein Unbehauster, kaum ein Erlösung Suchender, sondern eine Piratengestalt wie aus dem Märchenbuch, ist mit einmal mitten unter den Matrosen des Daland, und die kleine Senta, die den schweren Folianten an sich drückt, flüchtet sich ängstlich, neugierig und doch zugleich fasziniert unter den großen Bibliothekstisch und verfolgt so den Pakt, den Vater Daland mit dem ihm Unbekannten schließt und den Senta längst aus ihren Büchern kennt. Im zweiten Akt ist aus einer jugendlichen Senta eine ältere Frau geworden, Opfer der Spottlust des Hauspersonals, die kein Jäger Erik, sondern der Schreiberling der Firma vergeblich umwirbt. Der Bräutigam, den der Vater ihr zuführt, ist  entgegen den Erwartungen des Zuschauers nicht der Supermann vom Piratenschiff, sondern ein alter Trunkenbold, eine groteske Figur aus dem Panoptikum eines E.T.A. Hoffmann. Und während Senta scheinbar der ‚Zwangsehe’  zustimmt, sieht sie sich in ihrer Imagination als Braut des Holländers – und der Zuschauer sieht die Szene real, ganz so wie sie Musik und Libretto vorschreiben und wie sie sich in dem Gemälde, das sich zu einer zweiten Bühne weitet, ereignet. Auf diesem Schema der Gleichzeitigkeit von Imagination und philiströser ‚Realität’ basiert der gesamte dritte Akt. In der Realität feiert eine ausgelassene, betrunkene Gesellschaft die Hochzeit des senilen Trunkenbolds  mit einer immer ältlicher aussehenden angetrunkenen Senta, und auf der oberen Bühne ereignet sich in der Vorstellungswelt der Senta ihre imaginierte Hochzeit auf dem Piratenschiff, befreit sie wie Ritter Blaubarts Braut die gefangenen ehemaligen Bräute, wandelt sie sich zur neuen, jugendlichen Geliebten des Piraten und entflieht mit ihrem Seeräuber „übers Meer“. In der Wirklichkeit erschlägt Senta mit der Schnapsflasche den volltrunkenen, ihr gerade angetrauten  Ehemann und ersticht sich mit den Scherben.

Die Senta, wie sie uns in Basel präsentiert wird, ist keine psychopathische Traumtänzerin, wie sie die gängigen Inszenierungen verstehen, und erst recht ist sie keine Emanzipierte, die am Helfersyndrom leidet oder die einen Erlösungstick hat. In Basel zeigt man eine Senta als Opfer ausschweifender  Lektüre populärer romantischer Literatur, eine Senta, die am romantischen Lektüreschaden leidet und die dem entsprechend Literatur und Leben, romantische Fiktion und philiströse Wirklichkeit nicht auseinander halten will, eine Senta, die sich im Konflikt zwischen Fiktion und Wirklichkeit für die Fiktion entscheidet  und die, da sie die Dominanz der Wirklichkeit über die Fiktion nicht akzeptieren kann, sich der Wirklichkeit durch Selbstmord entzieht. Mit anderen Worten: in Basel wird der Fliegende Holländer als  Flaubert Variante, als Variante des Emma Bovary Mythos in Szene gesetzt. In Basel haben Philipp Stölzl und sein Team mit ihrem Holländer bewiesen, dass sie mehr sind als die billigen Performer und die simplen Videoclip Fans, als die sie sich in Salzburg gaben.

Wir sahen die Aufführung des Berliner Holländers am 01. Mai 2013. Die Premiere war am 28. April 2013.