Händel in Gießen? Ja, wenn Michael Hofstetter dirigiert und Händel zelebriert und der Counter Valer Sabadus den Nerone singt, dann lohnt sich die Fahrt nach Gießen alle Male. Und doch bleiben nicht primär Orchesterklang und Gesang, so herausragend sie auch waren, in Erinnerung, sondern die frappant witzige und in ihrer Konzeption kohärente Inszenierung. Das historische ( oder auch pseudohistorische) Ambiente, die Intrigen und Possen am Hofe des Operettenkaisers Claudio, die Umtriebe der Agrippina, das Gejammer des armen Ottone, dem Macht und Geliebte abhanden kommen, all das interessiert Theatermacher Balázs Kovalik nicht im geringsten. Die Regie verlegt den Ort der Handlung in ein Kinderzimmer von heute und lässt die Akteure zu „schrecklichen Kindern“ werden, die eine Geburtstagsparty feiern und dabei miteinander spielen und miteinander zanken, Freundschaften und Feindschaften ausprobieren, sich mit Kuchen bewerfen und Verstecken spielen und im Finale aufeinander losgehen. Nerone – im Vorgriff auf seine blutige Zukunft – schnappt sich ein Messer und hätte der kleinen Poppea beinahe die Kehle durchgeschnitten, dieser Zicke, die ihn eifersüchtig gemacht hatte, ja wenn nicht im letzten Augenblick (die von derRegie erfundene) „Tante Sigrid“ dazwischen gegangen wäre: „Jetzt ist Tante Sigrid aber wirklich böse. Nun macht mal ganz schnell Ei-Ei, liebe Kinder!“ Ein geradezu groteskes lieto fine, das der Komik des Kindergartens noch eine zusätzliche Pointe beschert.
Vom Ansatz her ist es schon komisch, wenn Erwachsene Kinder spielen. Doch wenn diese Pseudokinder noch dazu italienische Arien singen, dann entsteht aus diesem Kontrast gleichsam Komik hoch zwei – oder einfach Karneval. Und das passt ja auch wieder zur Händel- Oper: die Gebildeten unter uns erinnern sich daran, dass Agrippina in Venedig zum Karneval uraufgeführt wurde.
Natürlich hätte die Regie mit ihrer gewagten Konzeption auch kläglich scheitern können, wenn in Gießen nicht ein so spielfreudiges Ensemble auf der Bühne stünde, Sängerschauspieler, die eben nicht nur brillant singen können ( allen voran Valer Sabadus als Nerone und Naroa Intxausti als Poppea), sondern auch exzellent zu spielen wissen und denen das ganze Kindergartentheater auch noch sichtlich Spaß macht – und die diesen Spaß an das Publikum weitergeben.
Agrippina in Gießen: ein herausragender und zugleich ein höchst amüsanter Händel-Abend. Wir sahen die Aufführung am 6. April 2013. Die Premiere war am 23. März 2013.