Farinelli und Senesino und die Zicken im edlen Streite. Grosses Barocktheater nebst Selbstparodie in Händels London. Stefan Herheim inszeniert Xerxes an der Komischen Oper Berlin und jetzt in Düsseldorf

Grosse Show in Gesang und Szene, prachtvolle Kostüme, aufwendige Ausstattung, Effekte, die verblüffen und Erstaunen erregen. Maraviglia und Stupore, eben eine grosse Show, dies war es, was die Barock Ästhetik von den Künstlern verlangte und was ein verwöhntes Publikum auch einforderte – und was auch dem heutigen Publikum gefällt.

Im Xerxes werden alle die genannten Erwartungen erfüllt und übererfüllt: gleich fünf hohe Stimmen im Wettstreit und Genderswitching als Zugabe, ein Spiel zwischen Ernst und Scherz und Schein und Sein. Vorgaben, die die Regie nicht nur aufnimmt, sondern noch dazu parodiert, ironisiert und zu übertreffen sucht und damit implizit ein weiteres Dogma der Barock Ästhetik erfüllt, eben das Übertrumpfen der Vorbilder.
Die Theatermaschinerie zaubert, wie sich das für ein barockes Spektakel gehört, alles herbei: Händels Arbeitszimmer, Strassenszenen in London, die Schiffsbrücke über den Hellespont und deren Zerstörung im Sturm, arkadische Landschaften mit Hirten, Schafen und scheinbar bösen Bären, olympische Hochzeitsfeierlichkeiten, die berühmte Platane des Xerxes und noch vieles mehr. Und zugleich zeigt die Inszenierung mit Metatheater Gestus, dass dies alles doch nur Schein ist, Theater auf dem Theater: die Kulissen tragen die Techniker auf offener Bühne herein und heraus, die Akteure spielen in und hinter den Kulissen für sich selber. Als das Spiel zu Ende ist, da hocken sie müde und erschöpft auf der Rückseite der Kulissen, schauen ins Publikum, scheinen überrascht zu sein, dass sie doch für andere und nicht nur für sich selbst gespielt und gesungen haben.
Waren die (Liebes)Streitereien nun Schein oder Sein? Waren die Auseinandersetzungen zwischen Xerxes und seinem Bruder Arsamenes vielleicht ein Konkurrenzkampf zwischen zwei rivalisierenden Sängern auf Händels Londoner Bühne? War der Zickenkrieg, den sich die beiden Schwestern lieferten, vielleicht ein Eifersuchtsstreit, den die Primadonna mit der Seconda Donna in den Kulissen ausfechtet? Was will die als Offizier verkleidete Amastris eigentlich von dem androgynen Xerxes? Vielleicht eine lesbische Liebe? Alles ist nur Schein. Oder vielleicht vorgeblicher Schein? „Hacer parecer es el arte de las artes“ – so lautet das Credo der barocken Ästhetik und der barocken Lebensart.

Keine Frage, dass eine Barockoper wie Xerxes geradezu ideales Spielmaterial einem Theatermacher wie Stefan Herheim anbietet, Material, das sich ihm als Sprungbrett für die Imagination anbietet und aus dem er, wie nicht anders zu erwarten war, großes Musiktheater zu machen weiss. Und wenn ihm wie jetzt in der Komischen Oper ein exzellentes und spielfreudiges Ensemble zur Verfügung steht, dann erfährt das Publikum in der Tat Maraviglia und Stupore, Erstaunen und Verblüffung – ganz wie im Barocktheater. Doch die implizite Ironie und nicht minder die explizite Parodie, mit der das Spektakel in Szene gesetzt wird, holt uns Zuschauer in die Gegenwart zurück. Die Postmoderne hat noch nicht gänzlich ausgedient.

Wir sahen die Aufführung am 15. Juni 2012, die siebte Vorstellung “ seit der Premiere am 13. Mai 2012″.

Nachtrag vom 6. Februar 2013

Inzwischen hat die Deutsche Oper am Rhein (Düsseldorf) die Stefan Herheim Inszenierung übernommen, die Rolle der Primadonna mit Heidi Elisabeth Meier und die Titelrolle mit Valer Barna-Sabadus besetzt – und der Erfolg ist überwältigend. Die Aufführung übertrifft noch die schon hochrangig besetzte Berliner Aufführung, und dies vor allem dank Valer Barna-Sabadus.  Den neuen Star unter den Countertenören ‚live‘ zu hören und zu sehen, lohnt alle Male die Reise nach Düsseldorf. Dieser junge Sänger ist in seiner Brillanz und Manieriertheit fürwahr eine Ausnahmeerscheinung. Einen „Meister des Falsettgesangs“ nennt ihn  zu Recht die Kritikerin der FAZ. Hört und sieht man diesen grandiosen Künstler in Herheims barocker Inszenierung, dann erlebt man geradezu eine Zeitenverschiebung, glaubt man sich zurückversetzt in Händels Londoner Opernwelt.