Die so kunstvolle, so manierierte Produktion von Olga Motta, die mich schon in der vorigen Saison begeisterte, hat, jetzt wo auch der musikalische Part keine Wünsche mehr offen lässt, noch an Faszination gewonnen. Ich kann nur wiederholen, was ich mir vor einem guten Jahr schon notierte (Wir sahen damals die vierte Aufführung, die Vorstellung am 18. 12. 07).
„Mit der opera seria und mit Mozarts Versionen dieser Gattung (Lucio Silla wurde 1772 uraufgeführt) tun sich unsere Regiestars bekanntlich schwer. In Salzburg hatte Kusej vor ein paar Jahren La Clemenza di Tito zur Groteske heruntergezogen. Flimm hatte am gleichen Orte seinen Lucio Silla vor lauter political correctness meucheln und die Musik von einer Statistenhorde zertrampeln lassen. Carsen hat unlängst in Brüssel den Mitridate zum Kriegsspektakel im Irak transformiert, und gemeinsam haben alle auf die Ästhetik der Hässlichkeit gesetzt.
In Stuttgart hat man sich für den entgegen gesetzten Weg entschieden. Olga Motta, die für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, präsentiert eine hochmanierierte Aufführung, die die opera seria, ohne sie zu zerstören, auf den Kopf stellt und eine ganze neue Version vorschlägt. Das so zwanghaft scheinende gattungsbedingte lieto fine holt sie an den Anfang und lässt es als statuarisches Tableau, als großes Gemälde nachstellen – und entlarvt es damit als Kunst, als idealisierte Selbstdarstellung einer höfischen Gesellschaft. Ganz wie es dem historischen Sachverhalt entspricht. Vor diesem lebenden Bild steht als Betrachter eine schwarz gekleidete Gestalt mit schwarzer barocker Perücke. Sie wird sich, wenn das lieto fine verklungen und das lebende Bild entschwunden ist, den Zuschauern zuwenden: die Gestalt ist der Tod, der Regie führen wird, der die beiden sich liebenden Paare in den Tod führen wird. Aus einer Oper, die einstens dem aufgeklärten Herrscher huldigen wollte und in der das Sterben nur eine vorübergehende Gefahr für die Liebenden sein sollte, wird das Lied vom Tode, ein Lied, in dem der Herrscher zwar das letzte Wort haben wird, die letzte Strophe singen darf. Aber dieser Mächtige ist gleichsam sprachlos und musik-los geworden: angesichts der toten Paare wiederholt er, haucht er, ohne dass das Orchester ihn begleitet, das Dacapo aus Cinnas letzter Arie: „Pupille amate / Non lacrimate […]“. Das letzte Wort hat die Musik: während der Tod Leichentücher über die Paare breitet, spielt das Orchester den zweiten Satz aus dem Klarinetten Konzert A-Dur.
Es mag sein, dass das Stuttgarter Lied vom Tode in seinem Finale aufgesetzter Sentimentalität oder vielleicht auch dem Kitsch gefährlich nahe kommt. Aber effektvoll und konsequent von der Konzeption her ist es allemal. Olga Motta setzt nicht nur das Lied vom Tode, sondern – dazu gehört auch der effektvolle Schluss – auch ein barockes Schaustück um Liebe und Tod und die Vergeblichkeit aller Bemühungen – in Rokoko-Kostümen – in Szene und zitiert zugleich über die hocheleganten, farblich perfekt aufeinander abgestimmten Kostüme die Theaterpracht der höfischen opera seria. Und nicht nur dies: sie zitiert auch eine von manchen Theatermachern gerne vergessene Basiskomponente der opera seria: keine Handgreiflichkeiten, keine Gewalt auf der Bühne. Ganz konsequent in diesem Sinne ist es, dass es keine Kerker und keine Wächter für die verurteilten Verschwörer gibt (allein der Tod bewacht und überwacht sie), dass selbst verbale Gewalt von der Bühne verbannt ist: aus dem Rang in Zuschauerraum streitet Silla mit den Verschwörern und verurteilt sie von dort aus. Und damit erfüllt sich auch eine weitere Bedingung des Barocktheaters: alles ist Theater, großes Welttheater. Gehören zum großen Welttheater auch Wotans Feuerzauber und das Seil der Nornen? Zitiert die Regie , wenn sie immer wieder mit dem Feuer als Basisrequisit spielt oder wenn gleich in der ersten Szene Cecilio das Seil, das er mit sich trägt, anzündet, zitiert die Regie da den großen Theatermacher Wagner oder zitiert sie die klassische Feuermetapher für die Liebe, oder will sie nur – wie man uns im Programmheft glauben machen will – auf Gaston Bachelard und seine Psychoanalyse des Feuers verweisen. Ich glaube, das ist gar nicht so wichtig. Olga Motta hat eine höchst hybride und damit für die Zuschauer polyvalente Inszenierung vorgelegt: das Lied vom Tode in Rokokokostümen, in einem Barocktheater Ambiente unter einem Feuerzauber. In der opera seria in Stuttgart stirbt es sich in Schönheit oder vielleicht besser: in Manierismus“. (zitiert nach: Zerlina von Faninal, „Die schöne Musik! […]Da muß ma weinen“. Vom Spektakel der Inszenierungen. Blätter aus Zerlinas Operntagebuch (2005-2008). München – Zürich – Salzburg – Stuttgart – Wien – und die Provinz. München, Martin Meidenbauer Verlag, 2008, S. 112-113).
Wer die Oper als manieristisches Kunstwerk schätzt, der darf den Stuttgarter Lucio Silla nicht versäumen. Wer die Oper als reality show schätzt, der sollte gleich zu Hause bleiben. Er wird sich nur langweilen.
Wir sahen die 12. Vorstellung.