Tschaikowskis Nachtmären. Stefan Herheim inszeniert Pique Dame an der Oper Amsterdam

Wenn Stefan Herheim inszeniert, dann darf der Zuschauer großes Musiktheater erwarten. Scheinbar so vertraute Stücke gewinnen ganz andere, ganz neue Dimensionen, und verdeckte Bedeutungsschichten werden frei gelegt. Aus Rusalka wird die kleine Hure auf der Suche nach der großen Liebe. Im Eugen Onegin wird gleich ein Bilderbogen der russischen Geschichte mitgeliefert. Im Rosenkavalier werden schon zur Ouvertüre die erotischen Phantasien der Marschallin in Szene gesetzt, wenn Silenen und Satyrn auf sie einstürzen und ein androgyner Jüngling vom Himmel hernieder sinkt. Les Contes d’Hoffmann werden zum Revue-Theater, in dem sich alle Identitäten auflösen.

Auch jetzt in Amsterdam ist alles anders, als es der Zuschauer erwartet. Hauptperson ist nicht der der Spielsucht verfallenen junge Offizier Hermann. Auch nicht die alte Gräfin, die angeblich das Geheimnis der Spielkarten kennt, der Karten, die unermesslichen Gewinn bescheren. Auch die unglückliche Liza, die der Spieler seiner Sucht opfert, steht nicht im Zentrum des Interesses. All diese Personen sind nur Nebenfiguren, und die mit ihnen verbundenen Handlungsstränge, wenngleich sie die konventionelle Handlung vorantreiben, sind nur Episoden. Im Zentrum des Geschehens steht die Figur des Komponisten selber, Tschaikowski mit seiner unterdrückten und doch immer wieder hervorbrechenden Homosexualität, eine sexuelle Bestimmtheit, die die Gesellschaft nicht toleriert und die zum Anlass wird, den Komponisten in den Selbstmord zu treiben.

Nicht genug damit, dass die Regie das Libretto in dieser Weise anders und neu erzählt. Das Stück, das Stefan Herheim in Amsterdam in Szene setzt, ist ein großes Spektakel, genauer: ein hybrides Stück, in dem sich die unterschiedlichsten Gattungsformen überlagern: die Tragödie des Komponisten, Schauerromantik und Märchen (die Motive der Zauberkarten und der geheimnisvollen Gräfin), Mélodrame ( die unglückliche und im Selbstmord endende Liebesgeschichte des jungen Mädchens), Gesellschaftssatire (die Kaste der vergnügungssüchtigen Offiziere), Psychostudie (das Psychogramm eines Spielsüchtigen) und nicht zuletzt der Traumdiskurs. Ist das ganze Geschehen vielleicht nur ein Albtraum, eine Nachtmäre  Komponisten? Ist der erzwungene Selbstmord mit verseuchtem Wasser nur ein Traumgeschehen?

Nicht genug damit. All diese Gattungsformen – und dies ist wohl neben dem Thema der Homosexualität die Grundkonzeption der Regie – werden, so will es scheinen, von einer Metatheater Komponente zusammengehalten. Gespielt wird das Entstehen, das Komponieren der Oper Pique Dame. Der Komponist schreibt sie, komponiert sie am Flügel, spielt, ohne von seiner Identität als Tschaikowski zu lassen, selber die ambivalente Rolle des alten Fürsten Jeletski, dem die schöne Liza zugesprochen ist und der sich zu dem Offizier Hermann hingezogen fühlt. Eine Deutung, die eine der Ouvertüre noch vorangestellte Pantomime dem Zuschauer suggeriert: der Komponist Tschaikowski, der Hermann in seinem Salon hat übernachten lassen, macht diesem eindeutige Avancen und wird unter dem Gelächter des Offiziers zurückgestoßen. Kaum hat das ‚Objekt der Begierde‘ den Salon verlassen, da setzt sich Tschaikowski an den Flügel. Und das Orchester intoniert die Ouvertüre zur Pique Dame. Die stumme Szene, so suggeriert es die Regie, ist der Ausgangspunkt, die ‚Triebfeder‘, die den Komponisten die Oper schreiben lässt. Eine Oper über die Leiden der Homosexualität? Ja auch. Aber eben nicht nur.

Ein Spektakel, ein Verwirrspiel, dem der Zuschauer nur mit Mühe folgt und das ihn doch immer wieder von Neuem fasziniert. Warum erscheinen die Offiziere und die Spieler in Kostüm und Maske  als Doppelgänger des Komponisten? Warum zeigt das Schlussbild einen am Boden liegenden toten Tschaikowski und nicht den toten  Spieler Hermann? Ist es vielleicht doch nicht die Metatheater Komponente, sondern der Traumdiskurs, der alles zusammenhält? Im Traum ist ja  – frei nach Strindberg – „alles möglich und wahrscheinlich“. Der Traum „webt neue Muster: ein Gemisch aus Erinnerungen, Absurditäten und Improvisationen“.

Wie dem auch sei. In der Nationale Opera in Amsterdam ist grandioses Musiktheater zu sehen. Und selbstverständlich auch zu hören. Hier spielt unter der Leitung von Mariss Jansons das Concertgebouworkest. Hier singt und agiert ein exzellentes Ensemble durchweg russischer Sänger.  Hier wird eine Pique Dame der absoluten Spitzenklasse geboten.

Wir sahen die Aufführung am 24. Juni 2016. Die Premiere war am 9. Juni 2016.