Und es bleibt ihm doch sein Dackel. Giovanni Paisiello, Il barbiere di Siviglia. Ossia la precauzione inutile. Eine brillante ‚Komödie für Musik‘ am Theater an der Wien

Mehr als dreißig Jahre vor Rossini, so belehren uns die Musikhistoriker, komponierte der Napolitaner Paisiello in Sankt Petersburg  in starker Anlehnung an Beaumarchais‘ Komödie einen Barbier von Sevilla, ein sehr erfolgreiches dramma giocoso, das indes im Laufe der Rezeptionsgeschichte Rossini mit seinem  Barbiere gänzlich von der Opernbühne verdrängt habe. Zu Unrecht, wie wir nach dieser musikalisch und szenisch so herausragenden Paisiello Produktion, wie sie René Jacobs und das  Regieduo Moshe Leiser / Patrice Caurier jetzt in Wien herausbrachten, glauben müssen. Paisiellos Stück – so argumentiert Jacobs,  und so bringt er es mit dem Freiburger Barockorchester auch zu Gehör – ist „ein in Musik gesetztes Theaterstück“ und auffällig ist dabei immer wieder, „wie viel Mozart von Paisiello gelernt hat“ sowohl in „der Technik der manipulierten Sonatenform“ wie auch im Melodischen. So seien zum Beispiel in der Serenade des Grafen im ersten Akt die ersten Takte, „ der ‚Embryo‘ vom Hauptthema der Cherubino-Arie ‚Voi che sapete‘ […]“. Und es gäbe noch eine ganze Reihe ähnlicher Fälle (vgl. Programmheft, S. 16 und 17).   So sollte man denn, wenn ich Jacobs und seine musikalische Interpretation richtig verstanden haben, bei Paisiellos Figaro nicht Rossini, sondern Mozart mithören.

Doch sprechen wir nicht von der Musik. Sie zu beschreiben, sie einzuordnen, das kommt uns als Nichtmusiker nicht zu. Sagen wir einfach nur: Paisiellos Musik ist eine schöne, eine gefällige Musik, die wohl auch heute noch das Repertoire bereichern könnte. Sprechen wir lieber von der Inszenierung, die nicht minder brillant ist als der Musik-Part.

Da schwatzen sie in den Feuilletons  mit literatursoziologischer Geste wieder so leichthin von Revolution und übersehen, wollen übersehen, dass auch in diesem Figaro zunächst einmal die Grundstruktur der commedia dell’arte bedient wird: die jungen Liebenden düpieren den verliebten Alten, und  Arlecchino hilft ihnen dabei. Wie konkretisiert man dieses Schema? Wie macht man aus Strichmännchen lebendige, möglichst pralle Theaterfiguren? Das ist die Ausgangsfrage, zu der Beaumarchais und in seiner Nachfolge ein namenloser Librettist die Vorlage bieten und die das Wiener Regieteam mit Witz und Raffinesse auffüllt.

Gespielte Zeit ist nicht das ferne Sevilla des Ancien Régime, sondern das enge, spießige, klerikale Spanien der Franco Zeit, die Jahre, in denen ein schon bröckelndes Patriarchat glaubte , noch Macht über aufbegehrende junge Frauen zu haben. Schauplatz des Geschehens ist ein großbürgerlicher, miefiger Salon, mit Kreuzen über den Türen, mit Murillo Kopien an den  Wänden, mit Bibel und Nippes auf der Kommode, mit Likör im Glasschrank, mit Esstisch und Sesseln und mit stets geschlossenen Jalousien  – irgendwo im Spanien jener Zeit. Der Doktor Bartolo ist kein ’viejo verde‘, kein Lustgreis, sondern  ein eleganter, gut betuchter, kultivierter Rentier, der Graf ist (vielleicht?) ein ernsthaft Verliebter, Rosina eine frustrierte junge Frau, die (um jeden Preis?) aus der häuslichen Enge, aus ihrem goldenen Käfig, ausbrechen will, Figaro ist ein mittelloser gewitzter Intrigant, der (vielleicht?) dem Grafen freundschaftlich zugetan ist, Bartolo ein halbseniler geldgieriger Kleriker. Eine simple Intrige und fünf Personen (allesamt brillante Sängerschauspieler).

Aus diesem Material und aus dieser Konfiguration formt die Regie ein Kammerspiel, ein Stück, in dem die Personenregie triumphiert, in dem noch die scheinbar einfachste Szene durchgefeilt ist, in dem in keinem Augenblick zu Gags oder zur Klamotte gegriffen oder gar Zuflucht zu wohlfeilen Operngesten gesucht wird. Ein Stück, das die Figur des Bartolo nicht denunziert, sondern sie nahezu zur tragischen Figur macht und dieses Tragische mit Komik wieder auffängt. Der düpierte Bartolo, der endlich die ‚Beffa‘, den üblen Streich, den ihm die jungen Leute gespielt haben, durchschaut, sieht nur noch den Selbstmord als Ausweg.  Doch der Strick, den er sich schon um den Hals gebunden hat, lässt sich am Kronenleuchter nicht festmachen. Im Finale, als sich alle seine Wünsche und Hoffnungen als nichtig erwiesen haben, da lässt er sich in den Sessel fallen, scheint dem Herzinfarkt nahe.  Und wieder kippt die dieses Mal nur eben angedeutete Tragik in Komik um: der scheinbar Moribunde steht auf, beachtet die triumphierenden jungen Leute nicht weiter, holt seinen Dackel und führt ihn Gassi.

Auch die Figur der Rosina, wenn auch nicht in so starkem Maße wie die des Bartolo, ist ambivalent. Und dies wird überdeutlich in der Schlussszene des zweiten Akts: der Akt endet nicht mit einer Ensemble Szene, wie es die Konvention erwarten lässt, sondern mit einer Arie der Rosina: „Sie hat – so bemerkt René Jacobs in diesem Zusammenhang – dieselbe Versmetrik, denselben Rhythmus, dieselbe Instrumentation, dieselbe Tonart und dieselbe melodische Anlage wie ‚Porgi amor‘, der bitteren Arie der Contessa, womit in Le Nozze di Figaro der zweite Akt anfängt. Die Contessa leidet – und litt schon als junges Mädchen in Paisiellos Oper“ (Programmheft,  S. 24).  Die verzweifelte Rosina, wie sie sich da in den großen Sessel  verkriecht, tröstet kein Cherubino. Und ob der Graf Almaviva, wie er da  im Finale so stocksteif in seinem  braunen Zweireiher herumsteht, wirklich der ‚Richtige‘ ist? Ein offener Schluss.

Paisiello – Mozart. Mozart – Paisiello. In der Scuola di Napoli und deren Rezeption lässt sich noch Vieles (wieder)-entdecken.  Ein großer Opernabend im Theater an der Wien. Eine brillant gespielte und gesungene ‚Komödie für Musik‘.

Wir sahen die Vorstellung am 18. Februar 2015, die zweite Aufführung in dieser Inszenierung. Die Premiere war 16. Februar 2015.