Zur so eingängigen, in großen Teilen so populären und rührseligen Musik, der es fürwahr nicht an ‚Ohrwürmern‘ mangelt, bietet die Oper Leipzig als ‚Überbau‘ ein großes Spektakel in der Tradition der Grand Opéra.
Da rollen die Köpfe, da werden die Messer gezückt, da paradiert eine Hundertschaft von Soldaten aus der Zeit der Befreiungskriege, da liegen die Leichen zu Hauf herum, da ertränkt Marguerite das Baby in der Zinkbadewanne, da räkeln sich feurige Hände aus dem Bühnenboden gegen Marguerite, da verdammt eine groteske Horde von maskierten hohen Klerikern die Sünderin, da brennt das Kreuz, da legen die gefallenen Soldaten zur Walpurgisnacht einen Totentanz hin und massakrieren sich erneut, und die Flintenweiber wollen Faust verführen, da erschießt sich der unglücklich verliebte Siebel, da kriegt die arme Marguerite von einer sadistischen Soldateska den Kopf abgeschlagen, und der Teufel erscheint mit Feuer- und Nebelschweif. Gewalt und Tod und Brutalität als Leitthema der Inszenierung. Nur konsequent ist es da, dass Ort der Handlung die Halle im Leipziger Völkerschlachtdenkmal ist und die Regie das Geschehen in die Zeit der ‚Befreiungskriege‘ verlegt.
Ja, wer diese zweifellos gekonnt inszenierte Melange aus drastischem Pseudorealismus, Zauberspiel und Tragödie um das im späten 18. Jahrhundert so beliebte Motiv des verlassenen Mägdeleins mag, der kommt sicherlich auf seine Kosten. Dem Publikum hat es gefallen. Ich fand das alles ziemlich konventionell und im Vergleich mit der Faust Inszenierung in Amsterdam eher simpel und einfallslos (in Amsterdam spielt man weder eine Gewaltorgie noch eine Gretchen Tragödie, sondern die Tragödie eines jungen Professors der Biochemie, der an einem Homunculus Projekt arbeitet und der den Satan zu Hilfe ruft. Marguerite ist nur scheinbar eine authentische Figur. Sie ist das Produkt der Experimentierlust des Professors, ein Präparat aus dem Labor).
Ein Trost für alle, die Gounod lieben: in der Leipziger Oper wird in allen Rollen herausragend schön gesungen, und Marguerite in der Person der Olena Tokar ist von Stimme, Spiel und Bühnenerscheinung her ein geradezu anrührendes Gretchen. Ein schöner, wenn auch ein recht konventioneller Opernabend in Leipzig.
Wir sahen die Aufführung am 9. November, die vierte Vorstellung in dieser Inszenierung.