Wer ist Onegin? Eine befremdende Tschaikowski Inszenierung an der Oper Frankfurt

„Wer ist Onegin?“ – so fragt Theatermacher Jim Lucassen im November-Dezember Magazin der Frankfurter Oper und lässt die Antwort offen. Wer ist Onegin? – so fragt sich die Besucherin in der Vorstellung und weiß keine Antwort. Wer ist dieser Onegin? Ein spätromantischer Dandy ist er nicht. Ein Melancholiker, der an Überdruss und Langeweile leidet, wie es das Libretto vorgibt, ist er auch nicht.

„Wer ist Onegin?“ Vielleicht gibt die Szene, in die Lucassen und Dorothea Kirschbaum ihren Onegin stellen, Aufschluss. Die Szene ist eine Großbäckerei mit angeschlossenem Festsaal, in dem im Stil des sozialistischen Realismus ein pompöses Wandgemälde die Großtaten der Sowjetunion verherrlicht. Sind wir bei den Sowjets oder vielleicht in der DDR? Die Großbäckerei ist dann wohl eine Kolchose, in der Larina Brigadier ist, in der die Bauern zu Bäckern geworden sind, emsig Brot kneten und schöne Lieder singen, eine Kolchose, in der Olga den Betriebskindergarten, die Kita, leitet, in der die Amme eine gerade noch geduldete Rentnerin ist und Tatjana auf einem Berg von Stühlen hockt und sich mit einem Haufen zerrissener Blätter beschäftigt. Wer ist nun dieser Onegin, der da zusammen mit seinem etwas herunter gekommenen Freund, der wohl dem Kollektiv romantischer Lyriker angehört, in die Großbäckerei kommt? Vielleicht ein hoher Funktionär? Vielleicht nur so ein dummer, arroganter Schnösel? Vielleicht ein Mitarbeiter der Stasi? Ein abwegiger Gedanke – so scheint es zumindest in den ersten Szenen. Doch in den Schlussszenen da ist diese düstere Deutung der Onegin Figur, wie sie wohl die Regie insinuiert, nicht mehr so ganz abwegig. Wie kommt dieser Onegin, der jetzt zu seinem gewöhnlichen schwarzen Outfit einen Ledermantel trägt, in die von hohen Gittern umstellten Räume der Botschaft (in Ostberlin?), in denen Fürst Gremin, der zum hochdekorierten Offizier der sowjetischen Armee mutiert ist, einen Empfang gibt? Onegin und der General kennen sich seit langem – aus den Zeiten der sowjetisch-ostdeutschen Freundschaft? Wird mit dem verzweifelten Liebhaber, als der sich Onegin im Finale in Szene setzt, auch der Stasimann Onegin vor die Tür gesetzt? Eugen Onegin ein in der Liebe und in seiner Funktion Gescheiterter?

„Mit dieser Interpretation liegst Du vollkommen daneben“ – meint meine Freundin Ariadne. Dieser Frankfurter Onegin verweise doch auf eine Dostojeweskij Figur, auf den Pjotev aus den Dämonen. Ja, warum nicht. Die Inszenierung als ‚offenes Kunstwerk‘ und Rätselspiel:  „Wer ist Onegin?“.

Und wer ist Tatjana? Sie ist weder, wie sie einst Konwitschny in Leipzig sah, „eine revolutionäre Frau“ noch eine verhuschte Träumerin mit Lektüreschaden, wie sie die gängigen Inszenierungen hinstellen. Die Frankfurter Tatjana  ist ein spätes Mädchen, eine herbe und wenig attraktive Frau vom Lande, die sich, die Regie weiß  wohl nicht so recht warum, plötzlich verliebt hat. Im Final da ist aus Jungfer Tatjana eine reife Dame geworden, die froh ist, dass sie bei dem schon recht in die Jahre gekommenen Offizier untergekommen ist, der noch dazu so generös ist, der gesamten Sippe bis hin zur Amme Unterschlupf zu gewähren.

Was will der so jugendliche Onegin, der in der Botschaft im Wortverstande über Tisch und Bänke springt, eigentlich von der so reifen Dame? Libretto und Musik geben die Antwort: die romantische Liebe als Passion, die sich einst Tatjana erträumte, will er nachholen und ausleben. Von dieser vorgegebenen Antwort will die Regie nichts wissen. Hinter den Gittern der Botschaft – so signalisiert es die Szene – ist kein Platz für Träumereien.

Ein verlorener Abend in der Frankfurter Oper? Nicht ganz. Die „lyrischen Szenen“, die man auf der Bühne vergeblich sucht, sie ereignen sich im Orchestergraben. Das Orchester unter der Leitung von Maestro Sebastian Weigle liefert den rührend-süßen Tschaikowski Klang, bei dem die Soloinstrument brillieren und rettet den Abend vor dem Absturz in Banalität und Langeweile.

Wir sahen die Aufführung am 11. Dezember, die fünfte Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 20. November 2016.

 

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