Parsifal unter Kriminellen. Eine in Musik und Szene höchst gelungene Aufführung an der Staatsoper im Schiller Theater

Sagen wir es gleich ohne alle Umschweife. Am Ostermontag war in Berlin  ein Wagner zu hören, der geradezu süchtig machte, ein Parsifal, den Maestro Barenboim mit der Staatskapelle bis in die subtilsten Nuancen zelebrierte. Eine Musik, wie man sie sich nicht schöner und besser vorstellen kann. Und gleiches gilt für die Sänger: Anja Kampe als Kundry, René Pape als Gurnemanz, Wolfang Koch als Amfortas, Andreas Schager in der Titelrolle, um nur die Sänger der tragenden Rollen zu nennen. Orchesterklang und Gesang vom Allerfeinsten. Allenfalls im dritten Akt, so schien es mir, war wohl im Graben und auf der Szene und vor allem im Publikum eine Spur von depressiver Müdigkeit zu bemerken.

Und die Inszenierung? Sie mag in ihrem Realismus, in ihrem Hyperrealismus, mit dem sie alles Pseudo-Christliche, jeden Bezug auf Metaphysisches, welcher Art es auch sei, radikal weg streicht, gewöhnungsbedürftig sein. Doch bei aller Distanz, die man ihr gegenüber einnehmen mag: stringent und konsequent und überzeugend ist sie alle Male.

„Die Brüder“- ein Haufen von tumben, halbirren, gewalttätigen, geilen, in ihrem ganzen Auftreten verkommenen Männern unterschiedlichen Alters – hausen in einem wohl vor Urzeiten säkularisierten Klosterraum – vielleicht irgendwo jenseits des Urals. Von der angeblich einstigen Pracht und Macht der Brüder und von ihrem Streit mit einem Ritter namens Klingsor sind nur noch ein paar wackelige Dias übrig geblieben, die Unterkapo Gurnemanz  einer Handvoll neugieriger Sträflinge vorführt. Urvater Titurel, von Kostüm und Maske und vom Auftreten her wohl ein hoher NKWD Offizier im Ruhestand, ist des Dienstes überdrüssig, übt schon mal seine Rolle als Revenant und legt sich zur Probe in einen Sarg. Sein Sohn Amfortas, obwohl er an einer schweren Verwundung leidet, muss für den wilden Haufen immer neu als Blutspender agieren. Seltsamerweise glauben die Kriminellen, das Blut ihres wunden Anführers habe stimulierende Wirkung auf sie.

Spätestens  in dieser Szene haben wir alle im Zuschauerraum gemerkt, dass Theatermacher Tcherniakov in seiner Parsifal Version nicht ‚ruinöses Christentum‘ vorführt, sondern Kernaussagen des Christlichen, indem er sie ihrer Symbolik entkleidet und  auf kruden Realismus reduziert, vernichtet. Wagners Spiel mit christlichen Symbolen und Vorstellungen wird auf Realismus getrimmt und damit erledigt.

In diesem Stil geht es weiter. Parsifal ist der naive Junge von Nebenan, der unterwegs auf einer Wanderung ist und ganz zu Recht von dem Spektakel, das die Kriminellen mit ihrem Boss veranstalten, nichts kapieren kann. Kundry ist wohl die ältere Schwester, die den Heranwachsenden ‚aufklären‘ soll – eine Aufgabe, die sie bekanntlich nur unwillig übernimmt. Und entsprechend ist das, was da in Kingsors Haus von statten gehen soll, eine langgezogene Komödie. Sie beginnt schon mit dem Auftritt des angeblich so mächtigen Zauberers, der angeblich einen höchst gefährlichen Garten angelegt haben soll. Dieser Klingsor, wie ihn die Regie präsentiert,  ist ein spastischer, pädophiler Pantoffelheld, der sich zwei bis drei Dutzend  Mädchen aller Altersklassen hält (bei Wagner die „Blumenmädchen“), an diese Schokoladenplätzchen verteilt und mit ein paar Ohrfeigen sein Töchterchen Kundry dazu bringt, den armen Wanderjüngling Parsifal anzumachen.

Mit der Explosion seiner Sexualität, die die große Schwester bewirkt, kommt der arme Junge überhaupt nicht zu Recht, und wie ein verklemmter Theologiestudent sublimiert er die erwachende Sexualität mit religiösem Wahn – und Laufübungen. Mit anderen Worten: die Regie treibt die bei Wagner schon angelegte parodistische Komponente der Szene („Amfortas! — Die Wunde!“) auf die Spitze. Gegenüber Wahn und Sport hat die große Schwester, wie sehr sie auch nach Erlösung jammert, keine Chance. Und Pantoffelheld Klingsor mit seiner Lanze erst recht nicht. Parsifal, der sich schnell seiner Sportkleidung entledigt und sich in Military Dress geworfen hat, ersticht zum Entsetzen der herbei geeilten Mädchen Papa Klingsor. Mit dem Phallus heilige Lanz – so suggeriert es die Regie – weiß er halt schon umzugehen.

Im dritten Akt die zu erwartenden Exzesse der gewalttätigen nach dem Blut des Anführers dürstenden Kriminellen. Nichts Besonderes. Für das Finale indes hält die Regie noch zwei Bonbons bereit. Der dank der Lanze wieder genesene Amfortas erkennt in Kundry seine Geliebte wieder und diese in ihm den einstigen Geliebten – eine Wiederbegegnung, die beide in „brünstigem Verlangen“ genießen. Da bleibt dem alten Gurnemanz nur noch das Messer: der ewige Kreislauf von Sex – Sühne – Erlösung – Sex  muss doch endlich einmal angehalten werden. Ganz in diesem Sinne ersticht der Alte hinterrücks das Weib, und Parsifal macht sich mit der Leiche davon, und die jetzt wohl vollständig verblödeten „Brüder“ schauen in Verzückung gen Himmel.

Eine Tragödie? Nein, eine böse Parodie auf alles Erlösungsgeschwafel, auf alle dumpfe Männergemeinschaft und ihren Hass auf alles Weibliche.

Ein Parsifal der sublimen Musik. Ein Parsifal des Hyperrealismus, der mit dieser Art der Übertreibung das „Bühnenweihfestspiel“ in die Komödie und in die Parodie überführt. Ein großer Opernabend in der Staatsoper im Schiller Theater.

Wir sahen die Aufführung am 6. April, die 4. Vorstellung. Die Premiere war am 28. März 2015