Nein, ich muss nicht augenblicklich den Intendanten sprechen – dieser skurrile, doch letztlich belanglose Einfall, das Stück in umgekehrter Reihenfolge zu spielen, lohnt nicht der Diskussion – trotz all der gelehrten Verrenkungen, mit denen die Dramaturgie werkgeschichtliche, literatur- und gesellschaftsgeschichtliche und nicht zuletzt psychopathologische Gründe anführt, um diese Umstellung zu rechtfertigen. Ein Gag, und noch nicht einmal ein besonders origineller.
Viel effektiver, weit theaterwirksamer ist die Konzeption, den opera seria Teil als „Traumtheater“ zu spielen, als Visionen einer trauernden Verstörten, einer am Lektüreschaden leidenden und vom Aquavit benommenen Dame mittleren Alters, die im Foyer des Opernhauses eingenickt ist und sich in die Rolle der Protagonistin des Hofmannsthal Libretto, das sie wohl gerade gelesen hat, hineinsteigert. Da erscheinen ihr nun Kolumbine-Zerbinetta und ihre Partner – letztere nutzen wohl die Pause zwischen zwei Auftritten, um aus ihren Rollen zu fallen und ihre privaten Scharmützel mit ihrer Partnerin auszutragen. Über die schwarz gekleidete Dame, die im Sessel hockt, können sie sich nur wundern. Immerhin lässt sich diese von Zerbinetta aufheitern, so sehr, dass die beiden ein paar Gläser Aquavit zusammen trinken. In diesem Kontext überrascht es nicht, dass die drei Nymphen alte Jungfern sind, die wohl schon seit Jahrzehnten ein Opernabo haben und sich zum Stricken und Häkeln im Theater treffen, dass Bacchus in Unterwäsche und mit einem Saunatuch über der Schulter hereinstürzt. Er hat wohl die Tür zur Künstlergarderobe mit dem Eingang zum Foyer verwechselt und begreift überhaupt nicht, was diese aufgekratzte Dame von ihm will. Erst als sie ihm das Libretto vor die Nase hält, tut er, was die Dame von ihm verlangt. Und singt und spielt mit gezielt falschem und hohlem Pathos die Rolle, die die Dame ihm zugedacht und versucht sich so schnell wie möglich davon zu machen. Die Dame, die inzwischen die Rolle der Ariadne und deren Todessehnsucht gänzlich interiorisiert hat, macht sich auch davon. Ob sie sich in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster stürzt oder den Weg durchs Fenster nimmt, weil sie ihre Eintrittskarte für die Oper nicht bezahlt hat, das bleibt der Imagination der Zuschauer überlassen.
Theater auf dem Theater. Nein, Theater im Theaterfoyer. Eine ironisch und komödiantisch gebrochene Ariadne auf Naxos. Degradierung der opera seria und Banalisierung des Mythos. Das ist als Grundkonzeption nicht sonderlich originell. Aber unterhaltsam ist es alle Male. Keine Frage, dass ein Theatermacher wie Jossi Wieler eine solche Konzeption routiniert und gekonnt, phantasievoll und voller Witz in Szene zu setzen weiß, dass erstklassige Sänger, allen voran Christiane Iven in der Titelrolle, in Stuttgart auf der Bühne stehen, dass brillant musiziert wird.
Schade nur, dass alle Ironie, aller Esprit, die das „Nachspiel“ so sehr auszeichnen, im nachgereichten „Vorspiel“ in langweilig obsoleter ‚Gesellschaftskritik‘ versanden. Ja, wir wissen schon, die armen Künstler haben es zu allen Zeiten schwer, „die Kunst geht nach Brot“. Sie spielen in ausgeräumten Fabrikhallen, schleppen die Stühle für die Zuschauer selber herbei, selbst die Rentner aus dem Sängeraltenheim müssen sie aktivieren, und die arme Zerbinetta wird darüber so depressiv und apathisch, dass sie nur noch in der Ecke hocken kann … Tristezza allerorten.
So gelungen der erste Teil, so misslungen der zweite. Überdetermination der Message (vulgo: Holzhammermethode), das mögen wir nicht. Und das ist eigentlich auch unter dem Niveau eines Jossi Wieler.
Wir sahen die Aufführung am 29. Juni 2013, die 8. Vorstellung. Die Premiere war am 20. Mai 2013.