Theatermacherin Stoiber erzählt gern die alten Geschichten neu – auf ganz ungewöhnliche Art und nutzt dazu die Handbücher der Psychiatrie. In Karlsruhe hatte sie unlängst aus der Deutschen Lieblingsoper, dem Freischütz, eine Geschichte klerikaler Neurosen auf dem Dorfe gemacht und die keusche Agathe in eine Sakristeiziege mit Unterleibsproblemen verwandelt.
Jetzt in Graz bei der Lucia wartet Verena Stoiber wieder mit Überraschungen auf und entfernt sich so weit wie möglich vom Libretto. Vom Libretto bleiben nur die Namen und die Toten und die Basisintrige. Wer im Publikum konventionell auf ein schottisches Ambiente setzte, wer sich Nebel, Düsternis, verfallene Schlösser und Friedhöfe in der Morgenfrühe erhofft hatte, der wurde enttäuscht. Ort des Geschehens ist ein Hörsaal nebst dazu gehörigem Behandlungsraum in einer psychiatrischen Klinik. Aus dem Programmheft erfährt man, Hörsaal und Behandlungsraum seien der Klinik des Doktor Charcot nachgebildet, der Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Institut in Paris Versuche an hysterischen Patientinnen vorgenommen und zu seinen Experimenten Interessierte als Zuschauer eingeladen hatte.
Doktor Charcot, der sich in Graz in den bösen Bruder der Lucia, in Enrico Ashton, verwandelt hat, lässt auch uns Zuschauer im Saale an seinen Experimenten teil nehmen und macht uns gleich in den ersten Szenen zu Voyeurs. Während der Saaldiener (oder ist es der Assistenzarzt?) dem Doktor Enrico von den Liebesbeziehungen der Lucia zu dem so verhassten Rivalen und Konkurrenten Edgardo erzählt, entkleiden Nonnen die Patientinnen fürs Bad. So haben alle, die sich mit der Musik nicht anfreunden können, wenigsten was zum Gucken.
Auch Edgardo ist Mediziner, doch weniger Forscher und Experimentator, sondern vor allem Armendoktor, ein leidenschaftlicher Armendoktor, der beim Abschied von Lucia so sehr mit seinen Patienten beschäftigt ist, dass er noch nicht einmal Zeit findet, der angeblich so sehr geliebten Frau zuzuhören, geschweige denn sie anzusehen. Es reicht gerade mal zum Quickie hinter der Galerie des Hörsaals, für einen Quickie allerdings, der sich als fatal, nein genauer als letal für Lucia erweist. Als Doktor Enrico kurz vor der von ihm arrangierten Hochzeit der Schwester mit dem so dringend benötigten Investor Lucias Schwangerschaft entdeckt, versetzt er diese in Narkose und macht eine schnelle Abtreibung. Doch Enrico ist, wie wir alle schon gesehen haben, kein Chirurg und Gynäkologe, sondern Psychiater und Neurologe. Und so verblutet das Schwesterchen. Nicht so schnell, sondern langsam. Sie muss ja noch die Wahnsinnsarie singen. Und während sie diese singt, wird ihr weißes Kleid immer blutiger, und sie wird schwächer und schwächer. Nicht die ‚Liebe als Passion‘, wie es Libretto und Musik wollen, treibt Lucia in den Tod, sondern der fortschreitende Blutverlust. Sie ist auch keine Kriminelle, keine Mörderin. Um den anzüglichen, ihr aufgezwungenen Ehemann zu meucheln, ist sie schon viel zu schwach. Das besorgt für sie der Pfarrer und lastet der schon fast Besinnungslosen den Mord an.
Für das Finale hat sich die Regie noch einen Gag aufbewahrt. Edgardo wird die Geliebte nicht erst, wie er hofft, im Himmel wiedersehn. Er darf sie auf Erden wiedersehn – als Leiche auf dem Seziertisch. Die Tote darf er an sich ziehen, dazu (berückend schön) „bell‘alma innamorata“ singen und sich die Kugel geben. – Vorhang.
Waren das nun die berüchtigten Exzesse des deutschen ‚Regietheaters‘, die wir in Graz erlitten haben? Reiht sich Verena Stoiber mit ihrer Lucia Deutung in die Kohorte der „Stückerzertrümmerer“ ein? Ich glaube nicht. Ganz im Gegenteil. Sie schlägt eine durchaus originelle und kohärente Interpretation eines scheinbar so abgespielten Werks vor. Aus ihrer Sicht wird aus der romantischen Tragödie von Herz und Schmerz, unerfüllter Leidenschaft und Tod, eine Kriminalgeschichte, die von erbarmungslosen, sadistischen Medizinern erzählt, die Kleriker als Heuchler und Mörder hinstellt, die narzisstische Liebhaber als Dummköpfe präsentiert. Nicht von ungefähr ohrfeigt Lucia ihren Edgardo nach ihrer letzten Begegnung, nach der verrückten Szene, die er ihr gemacht hatte.
Und Lucia? Sie ist keine Hysterikerin. Mit der Klinik des Doktor Enrico hat sie nichts zu schaffen. Sie ist fremdbestimmt, ist Opfer eines Mörders und eines Narzissten.
Geht die Grundkonzeption der Regie in diese Richtung? Ein Thriller in der Psychiatrie mit der Frau (wieder einmal) als Opfer? Eine Transformation romantischer und schauerromantischer Materialien, die durchaus möglich ist.
Und wo bleibt Donizetti, wo bleibt der Belcanto? Besteht bei der Dominanz der Szene nicht die Gefahr, dass Donizetti zum bloßen Soundtrack Lieferanten reduziert wird? Vor dieser Gefahr bewahren in Graz ein brillantes Belcanto Ensemble und ein Orchester mit seinen Solisten, die das „Romantische“ betonen. Wenn zur Romanze der Lucia Harfenklänge aus dem Graben empor steigen, wenn zur Wahnsinnsszene die Glasharmonika der Stimme antwortet, dann sind wir wirklich in der romantischen Oper. Und wenn wie jetzt in Graz alle Rolle brillant besetzt sind, wenn Lucia in der Person der Ana Durlovski und Edgardo in der Person des Pavel Petrov so schön und zugleich so anrührend singen, eben Belcanto in Perfektion vortragen, und wenn auch die beiden Bösewichter, Enrico und Raimondo (alias Dariusz Perezak und Alexey Birkus ), durchaus mithalten können, dann wird trotz all der Anstrengungen der Regie die Szene zur quantité négligeable.
Ein großer Opernabend in Graz, mag die lange Fahrt uns auch grämen. Wir besuchten die Aufführung am 10. April 2019. Die Premiere war am 23. März 2019.