E del poeta il fin la maraviglia […]. Im Barocktheater oder vom Spiel der Illusionen und Desillusionen. Christof Loy inszeniert Alcina an der Oper Zürich

In einem Zaubergarten, in einem ‚Garten der Lüste‘, hielt Tassos Armida einst den Kreuzritter Rinaldo gefangen. Die Zürcher Alcina, wenngleich eine literarische Schwester der Armida, braucht keinen Zaubergarten. Ihr Reich ist die Welt des barocken Theaters, und  dieser Welt und der Prinzipalin der Theatergruppe ist Ruggiero, ein junger Mann von heute, verfallen. Alcinas Theater ist im ganz konkreten Sinne ein barocker Theaterbau mit einer Bühne, die sich perspektivisch verjüngt und deren Dekor eine arkadische Landschaft nachbildet. Doch diese Bühne schafft nicht nur Illusionen, sie desillusioniert zugleich den Zuschauer, indem sie den Blick auf die Bühnenmaschinerie der Unterbühne frei gibt. Auf der Bühne präsentiert man zur Ouvertüre ein Ballett und spielt dann ein Theaterstück in barocken Kostümen mit barock gekleideten Chargen. Alcina, die Prinzipalin, hat das Stück für ihren Favoriten Ruggiero arrangiert. Und sie und ihr Geliebter spielen die Hauptrollen und spielen eine Szene aus ihrer eigenen Geschichte, spielen frei nach Tiepolos berühmtem Bild die Spiegelszene zwischen Rinaldo und Armida nach – und werden unterbrochen. Die Illusionen stören und zerstören zwei Eindringlinge, die von ihrem Outfit her (schwarzer Anzug und Umhängetasche) aus der Welt von heute stammen. Bradamante, die von Ruggiero verlassene Frau – sie gibt sich als deren Bruder aus – und Melisso, ein gemeinsamer Freund, wollen Ruggiero aus der Welt des Theaters, des Scheins und der Imagination in die ‚Realität‘, wie sie sie verstehen, zurück holen.

Im Kampf zwischen Schein und Sein, zwischen illusionärer Wirklichkeit und ‚realer‘ Welt, siegt am Ende, so scheint es lange Zeit, das ‚Reale‘, das Banale, mögen sich die Theaterleute auch noch so dagegen wehren: Alcina, die Prinzipalin, die das Theater bewahren und ihren Geliebten nicht ziehen lassen will, Morgana, ihre Schwester, die sich in Bradamente verliebt hat und deren Genderswitching nicht erkennen will, Ruggiero, der sich gänzlich zwischen Schein und Sein verirrt und nur durch einen Trick, einen Theatercoup, aus seinen Illusionen gerissen werden kann.

Mit der sich immer stärker beschleunigenden Desillusionierung bricht auch die Scheinwelt des barocken Theaters zusammen. Hinter den Kulissen, im Maschinenraum und in den herunter gekommenen Künstlergarderoben ereignet sich das Geschehen im zweiten Akt. Im dritten Akt  lässt die Regie die Barock Chimären endgültig fallen. Morgana und ihr einstiger Geliebter singen ihre Versöhnungsarien in der Alltagskleidung von heute, und Ruggieros Militärmarsch Arie „Sta nell’Ircana pietrosa tana“ inszeniert die Regie als Militärklamotte, in der die Tanzgruppe Liegestützen machen und kriegslüstern herum springen darf. Und im Finale sind wir dann im Krimi mit obligatorischem Shooting Down gelandet. Nein, nicht ganz, mag auch Ruggiero Alcina erschießen. Ein lieto fine, in dem die banale Wirklichkeit siegt? Nicht so ganz. Alcina und mit ihr die Illusionen des Theaters sterben nicht, mögen die Leute von heute sich auch noch bemühen, sie zu vernichten.

Christof Loy, der vor nunmehr zehn Jahren in Hamburg und in München Alcina in Szene gesetzt hatte, bleibt auch in Zürich seiner damaligen Grundkonzeption, eben der barocken Ästhetik, treu. Für diese ist Alcina  wie auch Tassos Armida  die Chiffre für die Scheinwelt des Theaters und mit ihrem Lieben und Leiden zugleich eine erotische Chiffre par excellence. Chiffren, die sich mit dem  scheinbaren Sieg des ‚Realen‘ nicht auflösen. Zum Finale stürzt Ruggiero nicht in die Arme der wiedergefundenen Braut Bradamante. Er wirft sich der wiederkehrenden barocken Alcina zu Füßen. Das Spiel um Liebe und Theater wird von neuem beginnen – in einer Endlosschleife.

Fasziniert in Zürich schon die subtile Inszenierung, so fasziniert nicht minder das grandiose Ensemble, das hier singt und agiert. In Zürich hat man die Crème de la Crème der internationalen Opernstars engagiert: Cecilia Bartoli als Alcina, Philippe Jaroussky als Ruggiero, Julie Fuchs als Morgana. Ein Reigen der Arien  erwartet uns, der frei nach Marino dem Zuhörer maraviglia und stupore bereitet. Wir als Zuhörer können nur noch staunen, den Atem anhalten ob dieser so herausragenden Stimmen. Was soll man auch noch sagen, wenn Alcina in der Person der Bartoli mit „Sì, son quella, non più bella“ oder mit „Mi restano le lagrime“ geradezu in Melancholie versinkt oder mit „Ombre pallide“ die rächende Furie gibt, wenn  Morgana in der Person der Julie Fuchs gleich schon in ihrer ersten Szene mit ihrer Liebeserklärung an den vermeintlichen Jüngling  Bradamante „O s’apre al riso“ durch die Koloraturen wirbelt oder  wenn Philippe Jaroussky als Ruggiero auftritt. Was den Queers die Bartoli ist, das ist den Damen und allen, die die manieristische Kunst der Counter lieben, eben Jaroussky.

Zürich bietet wieder einmal Oper vom Allerfeinsten. Ein Fest des Gesangs und der Poesie. „Grämt sie die lange Fahrt?“ Wenn Oper so wie jetzt in Zürich zelebriert wird, dann grämt keine Fahrt.

Wir sahen die Aufführung am 4. Januar 2017, die dritte Vorstellung seit der Wiederaufnahme am 31. Dezember 2016. Die Premiere war am 26. Januar 2014.